Kunst Sphaira

„Der Geist der Zeit, der Zeitgeist, wird in erster Linie durch die Zukunftserwartungen einer Gesellschaft in einer Epoche bestimmt … Vielleicht ist der Zeitgeist überhaupt nichts anderes als die Gestalt der Zukunftserwartungen einer Zeitgenossenschaft“, Bazon Brock.

Die sphärische Umrundung und Transzendierung der Welt inszenierten die alten Griechen mit ihrer Bestimmung des Weltganzen als Kugel (bereits eintausendacht-hundert Jahre vor Galilei verstanden sie die Erde als Kugel, und dass diese sich um die Sonne dreht).
Der altgriechische Begriff für Kugel, Welt, Weltkörper und auch für Spielball ist Sphaira.
Im Kontext der antiken griechischen Naturphilosophie steht Sphaira für die Him-melskugel, die von dem Philosophen und Astrophysiker Anaximander (611 bis 546 v. Chr.) entworfen wurde.
Und der Philosoph Parmenides von Elea (um 500 v. Chr.) definiert „das Seiende“ als „wohlgerundete Kugel, vollendet nach allen Seiten, von der Mitte her überall gleichwertig“ (Diogenes Laertius).
Der Philosoph, Arzt, Politiker und Dichter Empedokles (um 450 v. Chr.) nennt den Weltkörper (Sphairos) unter der „grösst möglichen Herrschaft der Liebe von überall her gleich und durchaus ohne Ende“ (ohne Anfangs- und Endpunkt) (Diog. Laert.).
Bei Aristoteles (um 350 v. Chr.) steht Sphaira für das Himmelsgewölbe. Und schliesslich: Sphaira ist die erste der dreidimensionalen Figuren und deswegen die Kugelgestalt des Himmels.
Der Philosoph und Mathematiker Pythagoras (6. Jahrhundert v. Chr.) knüpfte mit seiner Philosophie an Anaximander und dessen Lehre vom Apeiron (das Unbe-grenzte, Endlose, Unvergängliche) als Anfang und Grundprinzip an, und ergänzte diese Philosophie, indem er die Zahl als zusätzliches Prinzip einführt, „Alles ist Zahl“, um die innere Harmonie der Welt und ihr zusammenhaltendes Element in mathematischen Beziehungen und Formeln abbilden zu können (den Babylonier ist der später nach Pythagoras benannte Satz über die Beziehungen der Seiten in einem rechtwinkigen Dreieck bereits um 2.000 v. Chr. bekannt, und den Ägypter ebenfalls um diese Zeit eine Näherungsformel für die Berechnung der Kreisfläche, und sie berechneten das Volumen eines Pyramidenstumpfs).
Und der pythagoraische Philolaos lehrt: „Eins ist der Anfang von allem. Was sich zuerst zusammenfügte, die Eins, liegt in der Mitte der Kugel …“. Und der Grossgott Zeus, als alleiniges Wesen, ist die Ruhe der Kugel.
Schliesslich bewies der Mathematiker, Physiker und Ingenieur Archimedes von Syrakus (um 287 bis 212 v. Chr.), dass sich der Umfang eines Kreises zu seinem Durchmesser genauso verhält, wie die Fläche des Kreises zum Quadrat des Radius (heute Kreiszahl).
Plato feiert im „Timaios“ die Kugel als vollendet, sich selbst genügend, und in seinem „Symposion“ feiert ebenfalls Aristophanes die Kugel und die Menschen selbst als Kugeln: sie waren ursprünglich keine Einzelnen, sondern zu zweit in einer Kugel, sie waren Kugelwesen, als Mann-Mann, Mann-Frau oder Frau-Frau. Zeus liess diese Kugelwesen durch Apollon teilen, damit sie ihre fehlende Hälfte suchen müssen, die „bessere Hälfte“, wie es heisst.

Später dann im Mittelalter lehrte der Baumeister und Universalgelehrte Leo Battista Alberti in seinen „Zehn Bücher über die Baukunst“, „dass sich die Natur vor allem am Runden erfreut, geht schon aus den Gebilden hervor, die sie selbst zeugt, hervorbringt und schafft. Der Erdball, die Gestirne, die Bäume, die Tiere, deren Nester, und was soll ich sonst noch aufzählen, das alles wollte sie rund haben“.
Leonardo da Vincis „vitruvischer Mensch“, aus der „Divina proportione“, ist in seiner Ausbreitung rund.

Hatten die antiken Völker die Welt gedanklich sphärisch umrundet und transzendiert, umrundeten im Mittelalter die Entdecker mittels Weltumseglungen mit Schiffen in persona den Globus, und machten sich die Erde untertan.
Schliesslich wird der Globus in der Moderne durch Flugzeuge und Schiffe, Kapital-ströme und Signale, Informationen, elektronische Kommunikation, dem Internet in einer Weise umrundet, das diese gleichsam eine zweite Erdatmosphäre bildet.

Spätestens seit der neolithischen Revolution und seit der Antike ist der Mensch ein Wesen, welches nach Wissen strebt, ein Wissensucher, ein nomadischer Jäger und Sammler heute „des im Kern nomadischen Medienzeitalters“, wie Vilem Flusser schreibt, – die letzte Entwicklungsstufe der technisch-kulturellen Evolution: vom Handmensch zum Werkzeugmenschen, dann zum Maschinenmenschen und schliesslich zum Apparatemensch, bzw. Informationsmensch.
Peter Sloterdijk definiert die Geschichte als grosspolitische und soziale „Sphärenerweiterungskämpfe“. Leitbilder sind die Kugel und der Globus, das „Ungewordene, Elternlose, Ungezeugte, das aus sich selber Sein und Bestand hat“. Die Urkugel ist der kósmos. Sie war in der Antike der allumspannende Himmel und das Emblem des göttlichen Seins.
Goethe sah das Glück als Kugel: „Ruhig vor Augen stehend zeigt die Kugel sich dem Betrachtenden als ein befriedigendes, vollkommenes, in sich abgeschlossenes Wesen.“
Seit den alten Griechen ist die göttliche, allumfassende griechische „sphaira“ zur geläufigen „Hieroglyphe des gesamten Weltganzen und vor allem des Himmels“ (Sloterdijk), zum Bild der kosmischen Totalität geworden.

Experimentum Mundi Spielplatz Internet
„Land der unbegrenzten Möglichkeiten“
Die Informations-Wissens- und Erlebnis-Kultur hat die Räume der Welt zeitlich kleiner gemacht. Durch Steigerung von Geschwindigkeiten können Menschen körperlich nationale und kontinentale Räume immer schneller durch- und überqueren. Und `gleichzeitig´ transzendieren Menschen Räume mittels elektronischer Kommunikation.
In früheren Zeiten galt die Scheibe Erde und später der Globus Erde den Menschen als Heimat. Die gegenwärtige Entheimatung des modernen Menschen wird durch den flächig globalisierten Markt mit Waren, Geld, Symbolen, Simulationen verursacht.
Das Internet ist zu einer Gegenöffentlichkeit im Verhältnis zur traditionellen Mediengesellschaft geworden. Und zwar auch hinsichtlich des Auftrags der conditio humana, gemeinsam klüger zu werden. Und das Internet hat keinen „Demiurgen oder Macher“ (Sloterdijk), wie es bei traditionellen Medien der Fall ist, sondern „in dieser Netzwelt gibt es nur Trends und plötzliche okkasionelle Synergien“ (Sloterdijk).
Das Internet hat zwei metaphysische Vorläufer: die Unendlichkeit und Zeitlosigkeit des menschlichen Unbewussten, und die Unendlichkeit und Zeitlosigkeit des Uni-versums, das „Sensorium Gottes“, wie es der englische Physiker Isaac Newton nannte.
Derart wirkt das Internet als eine Art imaginär-hyperrealistisches Weltreich, eines, das sich ohne Eroberungskriege, Koloniesation und Ideologisierung, ohne Kontrolle und Restriktion, ohne Autoritarismus und Okkupation, grenzenlos ausbreitet. Das Internet, ist ein Weltreich, als wäre es nicht von dieser Welt, und doch ist es real, eine reale Utopie, eine Art Ding an sich als Subjekt-Objekt-Phantasie.

Der gesellschaftliche Sprung von der Postkutsche zur Eisenbahn war grösser, als der von der Eisenbahn zum Flugzeug. Aber der enorme Sprung von der akustischen Tischglocke zur drahtlosen Telegrafie ist in gewisser Hinsicht kleiner, als derjenige von der atomaren Rakete zum Internet. Mittels der Rakete finden wir – bisher und auf weiteres – nur Materie. Mittels des Internet materialisieren wir Suchvorgänge zu Entdeckungen aller Art und kommunikativen Prozessen.
Es ist, als hätte Prometheus das Feuer noch einmal vom Himmel geholt.

Zwar ist das Medium Internet strukturhistorisch Nachfolger von Medien wie Trommel und Rauchzeichen, aber Kommunikationsmöglichkeiten mittels Internet sind die historisch komplexesten und weitreichendsten, – multidimensional.
So bietet das Internet eine fiktive Heimat als „nomadisches Medienzeitalter“ (Vilém Flusser). Immer mehr Menschen nomadisieren um die Welt, nicht nur leibhaftig, sondern eben im Internet wird täglich globalisiert, das grosse `Land der unbegrenz-ten Möglichkeiten´. Eine unblutige und demokratische Renaissance der grossen geographischen und technischen Abenteuer der Menschheit, von den Wanderungen des Homo Erectus, über die Völkerwanderungen, zu den globalen leibhaftigen, elektronischen und virtuellen Wanderungen.

Suchmaschinen sind Sucher, Spurensucher, Jäger, Sammler, Schiffe in unbekannte Welten, Nomaden. Und die sogenannten Nutzer nomadisieren im Internet in einer sowenig fassbaren Dimension wie es das Universum darstellt. Das ist die romantisch-hyperrealistische Gegenöffentlichkeit die das Internet repräsentiert, und den buntesten Spielplatz ausbreitet.
Die öffentlichen Räume in den Städten, die Plätze, Erlebnisorte, Konsumbezirke, sind religiöse Kultorte, Zauberkreise, enttabuisierte totemistisch-heilige Spielplätze. Der Spielplatz, Platz um das Lagerfeuer, im Kral, Dorfplatz ist der Grund-Archetyp öffentlicher Räume und Privat-Haushalte. Die ganze Welt ist zum Spielplatz gewor-den: für globalen Handel mit Geld, Waren, Menschen, Bildern, Zeichen, Informatio-nen, Meinungen.
Der Meeting Point Lagerfeuer – Feuer auf dem heiligen Platz in der Mitte des archa-ischen Krals – der Familie und des Singles heute, ist, neben dem Herd für eine leib-liche Grundversorgung und dem Kamin oder der Heizung für eine thermische Grundversorgung, der Fernsehapparat und das Internet. Sie sind das ekstatische Zauberfeuer auf dem Dorf-Spiel-Platz aus dem es sprüht und funkt, Bilder illuminieren, sie ziehen in Bann. Und der Obulus, der früher an den Hohepriester, Zauberer, Medizinmann, Schamanen, Magier gezahlt wurde, für seine Segen, Gesänge, Geschichten, Rituale, Deutungen und Prophezeiungen die er im Feuer inszenierte und sah, zahlt man heute an die GEZ und an T-Online.

Zeitalter der kommunikativen Zeichen und Bilder
Kant hatte das Gefühl des Schönen als „interessenloses Wohlgefallen“ definiert, weil es sich nicht auf einen wirklichen Gegenstand, sondern auf die Vorstellung desselben bezieht.
Nach Hegel dann befreit die Kunst die „Ohnmacht der Natur“ aus ihrer Unvollkom-menheit, mittels einer Inhalts-Ästhetik, als eine „besondere Art und Weise des Scheins, in welchem die Kunst dem in sich selbst Wahrhaftigen Wirklichkeit gibt“.
Derart ist die Kunst bei Hegel am Ziel der drei Epochen der Kunst: „Bestehen im Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals als der wahren Idee der Schön-heit“.
Diese ist die griechisch-antike Kunst, die ebenfalls Goethe, Schiller, Wilhelm von Humbold und Marx feiern, als unwiederbringlich vergangenen Gipfel der Kulturentwicklung.
Hegels Wertschätzung der Antike ist diejenige als Ausdruck des absoluten Geistes, der absoluten Wahrheit. Und Hegels „Ende der Kunst“ bezieht sich auf ihre Bedeutung für die Erkenntnis des Wahren: „Man kann wohl hoffen, dass die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein.“

Als mit dem 20. Jahrhundert das moderne „Eiserne Zeitalter“ anbrach, wurden die Linien und Formen in der bildenden Kunst kantiger: Futurismus, Expressionis-mus und Kubismus, Dadaismus und Konstruktivismus. Kasimir Malewitsch schrieb 1916: „Unsere Welt der Kunst ist neu geworden, gegenstandslos, rein. Alles ist ver-schwunden; geblieben ist die Masse des Materials, aus dem sich die neue Form aufbauen wird.“
Karl Marx schrieb in der Einleitung der „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“: „Bekannt, dass die griechische Mythologie nicht nur das Arsenal der giechischen Kunst, sondern ihr Boden. Ist die Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der griechischen Phantasie und daher der griechischen Mythologie zugrunde liegt, möglich mit selfactors und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen? Wo bleibt Vulkan gegen Roberts et Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Crédit mobilier? Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung; verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben. Was wird aus der Fama neben Printinghouse square? Die griechische Kunst setzt die griechische Mythologie voraus, d. h. die Natur und die gesellschaftlichen Formen selbst schon in einer unbewusst künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphantasie. Das ist ihr Material“.

„Alles ist verschwunden; geblieben ist die Masse des Materials, aus dem sich die neue Form aufbauen wird“, Malewitsch.

Das vormals romantische wie unterdrückte Ich stellt sich nun sich selbst gegenüber, mit der Masse des Materials der Volksphantasie der neuen Zeit: Übergang vom Adel zum Bürgertum, von der Handarbeit zur Industrialisierung, in der Gesellschaftsphilosophie („Die Welt ist alles, was der Fall ist“, Ludwig Wittgenstein; „das Ding an sich ist die objektive Phantasie“, „Geist der Utopie“, Ernst Bloch), in der Psychoanalyse („Wo Es war, soll Ich werden“, Sigmund Freud), in den Künsten, – das „Schwarze Quadrat“, sowie Kreis, Kegel und alle Formen, Hohlraum, leere Oberfläche, Dada: das Experiment Selbstauflösung.
Der amerikanische Maler Ad Reinhardt sagte, lange vor Josef Beuys, entspannt: ,,Kunst ist Kunst. Alles andere ist alles andere“.

„Alles hat vom Objekt seinen Ausgang genommen“, schreibt Jean Baudrillard. In der gegenwärtigen Gesellschaft des Spektakels jedoch wird alles zu Zeichen, die gegeneinander austauschbar sind, die Beaudrillardsche „Simulation“ von Politik, von Gesellschaften, Kultur und Kunst. Im Zeitalter der Globalisierung werden Kunst und Kommunikation immer mehr miteinander verbunden. Die Popart wurde nach Duchamp durch den Gross-Simulator von Ästhetik, Andy Warhol, neu inszeniert, indem er eine mystische Simulation der post-figurativen Welt als „anthropologisches Ereignis“ (Beaudrillard) schuf.

„Man muß sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet“, schrieb der Maler Paul Cezanne.

Das Allmende Internet und das sphärisch Runde ist unendlich, unbegrenzt, unver-gänglich und zeitlos, wie das Unbewusste und das Universum, weil Wissen, Informationen, Aufklärung, Bildung, Unterhaltung und Spiel unendlich, unbegrenzt, unvergänglich und zeitlos interessant und erfreuend sind: sphärisch, umrundend, globalisierend, rollend, kreisend … und das Internet und das sphärisch Runde ist formlos und formschön, abstrakt und konkret, farblos und bunt.
Deswegen symbolisiert sich das Internet über ein sinn-lich-naturalistisch-futuristisch-sphärisches Symbol, Signal, eine Metapher: die vier sphärischen Rundheiten, – Kugeln, Globen, Bälle, Kreise,
– „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“, schrieb der Maler und Schriftsteller Francis M. de Picabia in seinen Aphorismen.
Internet ist formlos und formenreich, abstrakt und konkret, kreuz und quer, farblos und bunt, intelligent und sinnlich, phantasiereich und spontan, heiter und verspielt – freihändig.

Der Schriftsteller Martin Walser präsentiert in seinem Roman, „Der Augenblick der Liebe“, einen Künstler, der nur Kugeln formt, alles aus Kugeln bildet: „Er nennt sich: mystischer Bildhauer und Sphärist.“ Eines Tages werde der „Sphärismus“ die Kunstszene beherrschen (der Künstler Carlo Dahlmueller ist seit Jahrzehnten Sphärist). Die Kugel sei das Vollkommene, nur auf ihr habe das Leben entstehen können. Und der Spielplatz-Spieler Uwe Seeler hat abrundend formuliert: „Das Geheimnis des Fussballs ist ja der Ball.“

„… ein Ziel hatte Zarathustra, er warf seinen Ball: nun seid ihr Freunde meines Zieles Erbe, euch werfe ich den goldenen Ball zu. – Lieber als Alles sehe ich euch, meine Freunde, den Ball werfen! …“
Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“.