Urphantasien

„Regel:
1. Leiste dem Alarm sofort Folge.
2. Lege rasch Feuer.
3. Verbrenne alles.
4. Melde dich sofort zurück.
5. Stehe für den nächsten Alarm bereit.
Der Alarm ertönte.“
Ray Bradbury, „Fahrenheit 451“

Zum Jahreswechsel präsentierte Der Spiegel am 21.12.2002 einen Artikel von Reinhard Mohr und Henryk M. Broder in der Abteilung „Kultur“, unter der Rubrik „Zeitgeist“, über Peter Sloterdijk mit dem Titel: „Herr der Blasen“.
Mohr/Broder spielen damit sowohl auf das aus drei Bände bestehende, mit ca. 2.500 Seiten umfängliche Werk „Sphären“ von Sloterdijk an, dessen erster Band den Titel „Blasen“ trägt, als auch auf jahrelange Vorwürfe gegen Sloterdijk, seine Philosophie, seine Sprache seien „Sprechblasen“, nämlich unverständlich.
In „Der Spiegel“ 2/2003 schreibt Harald Fauska als Leserbrief: „Ihre Redakteure spitzen ihren Bleistift nicht gegen die Mächtigen, sondern kritisieren den Kritiker. Ob man Sloterdijk mit Verleumdung, Schmähung und bewusstem Falschlesen gerecht wird, ist fraglich.“
Robin Kenius schreibt als Leserbrief über Sloterdijk: „… Seine Rede ist dunkel, die Sprache unverständlich“.
Anläßlich des „Alarmismus“ wegen der Elmauer-Rede von Sloterdijk 1999 zur Gentechnik, gesteht der Philosoph Ernst Tugendhat in der berühmten Ausgabe von „Die Zeit“ Nr. 39, vom 23.9.1999, „dass ich nicht verstanden habe, worum es dem Autor überhaupt geht. Was will er eigentlich? Und gibt es irgendetwas an diesem Aufsatz, was wir jetzt besser verstehen würden? Irgendetwas, das er geklärt hätte? Ich habe nichts gefunden“.
Und in der gleichen Ausgabe mahnt der Philosoph Manfred Frank: „Ist nicht gerade der Philosoph eine Antwort auf diese Herausforderung“ (gentechnisches Know-how) „schuldig?“

In der besagten Ausgabe Der Spiegel vom 21.12.2002 schreiben Reinhard Mohr und Henryk M. Broder:
„… Denker spricht und schreibt: prätentiös, umständlich, verquast … megalomanem Wortausstoss …“
Nachdem Hegel seine Vorlesungen in Berlin angetreten hatte, schrieb der Philosoph und Rektor Schleiermacher schon nach ein paar Wochen: „… man muss sehen, wie er sich auf die Länge hält; Klagen über seine Unverständlichkeit werden freilich schon gehört …“  (auch Schiller wurde Unverständlichkeit wegen seiner „Ästhetische Briefe“ vorgeworfen).
Und Goethe schrieb in einem Brief an Graf von Reinhard: „… dieser wundersam scharf und fein denkende Mann ist seit geraumer Zeit Freund meiner physischen Ansichten … hat er sich so durchdringend geäussert, dass mir meine Arbeit wirklich durchsichtiger als vorher vorkommt …“.
Und in einem Brief an Staatsrat Christoph L. F. Schultz schreibt Goethe: „Eine besondere Freude jedoch, die mir in diesen Tagen geworden, darf ich nicht verschweigen. Ich erhielt einen Brief von Professor Hegel, der mir höchst wohltätig zustatten kam. Er bezog sich auf mein letztes naturwissenschaftliches Heft, besonders auf die entopischen Farben. Dieser merkwürdige geistreiche Mann hat, wie meine Chroagenesie überhaupt, so auch dieses Kapitel dergestalt penetriert, dass meine Arbeit mir nun selbst erst recht durchsichtig geworden.“
Und in einem Brief an Hofmeister von Knebel berichtet Goethe über ein Gespräch mit Hegel: „… denn was bei gedruckten Mitteilungen eines solchen Mannes uns unklar und abstrus erscheint, weil wir solches nicht unmittelbar unserem Bedürfnis aneignen können, das wird im lebendigen Gespräch alsobald unser Eigentum, weil wir gewahr werden, dass wir in den Grundgedanken und Gesinnungen mit ihm übereinstimmen und man also in beiderseitigem Entwickeln und Aufschliessen sich gar wohl annähern und vereinigen könne.“
Karl Rosenkranz schreibt in „Hegels Leben“: „Das offenbar beschwerliche in Hegels Sprache … dass er gewissermaßen in Hauptwörtern dachte, dass bei Betrachtung eines Gegenstandes ihm die Bezeichnungen gleichermassen wie Gestalten erschienen, die miteinander in Handlungen traten, und deren Handlungen er dann erst in Worte übersetzen müsse.“
Ernst Bloch nun schreibt in „Subjekt-Objekt – Erläuterungen zu Hegel“: „Doch ist der übliche Vorwurf, daß die deutschen Philosophen … schlecht schreiben, schon an Kant ein Unsinn, noch mehr an Hegel. Diesem Vorwurf wurde ein verdächtiger Teil der Aufmerksamkeit gewidmet; er ist ein Mittel, sich große Denker vom Hals zu halten. … Es ist Blut und Mark in Hegels Sprache, ein Korpus aus süddeutschem Erbgut, und das knorrige Wesen blüht, oft gotischer Zaubergarten, oft Weltfigur, in einem einzigen winkligen Detail.“
Hegel selber schrieb 1812: „Den Uneingeweihten muss jene ihrem Inhalt nach ohnehin als die verkehrte Welt erscheinen, als im Widerspruch mit allen iheren ungewöhnlichen Begriffen, und was ihnen sonst nach dem sogenannten gesunden Menschenverstand als gültig erschien“.
Bloch erging es selber ähnlich: Bekannt sind die Vorgänge um die Besetzung des Lehrstuhls für Philosophie Ende der vierziger Jahre in Leipzig, hinsichtlich Ernst Bloch; Kommentare: „…der allerdings nicht aus dem Geist der Sprache heraus denkt und schreibt, sondern diese höchst eigenwillig zum Instrument seiner subjektiven Wirkungssicht macht“,  Bernhard Schweitzer, Archäologe;
oder Dekan Walter Baetke: „Die Mehrheit der Fakultät vermochte jedoch nicht zu einem positiven Urteil darüber zu gelangen, daß Bloch ein Philosoph sei, der dasjenige Maß von Kenntnissen in den wissenschaftlichen Disziplienen und ihrer historischen Entwicklung sowie diejenige Vertrautheit mit den exakten Forschungs-methoden besitze, die für einen philosophischen Lehrstuhl dieser Bedeutung gefordert werden müßten“.
Und beide: Der Verleger von „The Living Thoughts Library“, Alfred Mendel beklagt sich 1946 in einem Brief an Bloch über dessen Hegel-Manuskript (später Band 8 der Gesamtausgabe, „Subjekt-Objekt, Erläuterungen zu Hegel“), es sei unverständlich und unübersetzbar, „Ihr Buch versucht keine Einführung zu Hegel, es ist Hegel selber, ohne Einführung … für hegelhungrige Laien wie mich bleibt nur das verständnislose Staunen.“

In „Der Spiegel“ 2/2003 heißt es in einem weiteren Leserbrief, von Bernhard Koch: „Was bei Sloterdijk für den Einsteiger häufig Befremden auslöst, ist, dass er die erwarteten Imperative nicht gibt, dass seine Analysen nicht `reicher´, sondern `ärmer´ machen. Ähnlich wie bei Niklas Luhmann rührt die Empörung linker Intellektueller einfach daher, dass sie es nicht hinnehmen wollen und können, wie da einer einfach nur betrachtet, `theoria´ betreibt.“
Walter Jens schreibt in seinem Beitrag „Ein Segel in eine andere Welt“, in „Denken heißt überschreiten – in Memoriam Ernst Bloch“, dass, wenn Ernst Bloch früher gestorben wäre, und seine großen Hauptwerke nicht erschienen wären, „… dann stünde er heute als sprachgewaltiger Essayist, als Meister der kleinen Form, als expressionistischer Literat und politischer Schriftsteller in den Lexika …“.
Hegel selber: „Wir müssen überzeugt sein, dass das Wahre die Natur hat, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen, und dass es nur erscheint, wenn diese gekommen, und deswegen nie zu früh erscheint, noch ein unreifes Publikum findet; auch dass das Individuum dieses Effekt bedarf, um das, was noch seine einsame Sache ist, daran sich zu bewähren und die Überzeugung, die nur erts der Besonderheit angehört, als etwas allgemeines zu erfahren. Hierbei aber ist häufig das Publikum von denen zu unterscheiden, welche sich als seine Repräsentanten und Sprecher betragen. Jenes verhält sich in manchen Rücksichten anders als diese, ja selbst entgegen-gesetzt. Wenn es gutmütigerweise die Schuld, dass ihm eine philosophische Schrift nicht zusagt, eher auf sich nimmt, so schieben hingegen diese, ihrer Kompetenz gewiss, alle Schuld auf den Schriftsteller. Die Wirkung ist in jenem stiller als das Tun dieser Toten, wenn sie ihre Toten begraben. Wenn jetzt die allgemeine Einsicht überhaupt gebildeter, ihre Neugierde wachsamer und ihr Urteil schneller bestimmt ist, so dass die Füsse derer, die dich hinaustragen werden, schon vor der Türe stehen, so ist hievon oft die langsamere Wirkung zu unterscheiden, welche die Aufmerksamkeit, die durch imponierende Versicherungen erzwungen wurde, so wie den wegwerfenden Tadel berichtigt und einem Teile eine Mitwelt erst in einiger Zeit gibt, während ein anderer nach dieser keine Nachwelt mehr hat“.

Wie sehen „Verleumdung, Schmähung und bewusstem Falschlesen“ aus, wie Harald Fauska es in seinem Leserbrief formulierte?
1999, anläßlich des „Alarmismus“ wegen der Elmauer-Rede von Sloterdijk zur Gentechnik, erschienen in Der Spiegel, Die Zeit und in Foilletons von Tageszeitungen Kritiken; Textzitate:
„Seine jüngste Rede über `Menschenzucht´ trägt Züge faschistischer Rhetorik“;
„Geiferwörter“;
„frivole Fascho-Semantik“;
„ … schon ganz im Tonfall Nietzsches“;
„Zu viel wurde bisher davon bekannt“ (die Elmauer Rede), „zu viele Hörer haben sich auch Notizen gemacht“;
„Auch wer wenig mehr verabscheut als klischeehafte ideologische Denunziationen und beim Begriff der `Selektion´ nicht nur an die `Eugenik´ der Nazis und die Rampe von Auschwitz-Birkenau denkt, sieht sich genötigt, in Argumentation und Sprache Sloterdijks faschistische Anklänge auszumachen. Sein Hinweis, über weite Strecken nur die Position seiner philosophischen Lehrmeister Platon, Nietzsche und Heidegger referiert zu haben, verfängt nicht …“;
„Sichtbar bleibt ein intellektueller Skandal: Der einst linke Vordenker Sloterdijk, Liebling erlesener Debattier-zirkel und zeitgeistsatter Fernseh-Talkshows …“;
„Medienerfahrene Modephilosoph“;
„Nach fast tausend Seiten“ („Kritik der zynischen Vernunft“), „die ihn mit einem Schlag berühmt machten“;
„Die zwei dicken, süffig geschriebenen Bände“ („Kritik der zynischen Vernunft“) „wurden rasch ein Bestseller und machten Sloterdijk zum Star“.

Diese Sprache nun ist leicht verständlich. Sie enthält keine denkerische Tiefe, vermeidet es die Hegelsche „Anstrengung des Begriffs“ auf sich zu nehmen („an diesem, woran dem Geiste genügt, ist die Grösse seines Verlustes zu ermessen …, “Phänomenologie des Geistes“), kommt ohne jede Zweifel an der eigenen Meinung aus, es fehlt jegliche inhaltliche Auseinandersetzung und Reflexion. Es ist die direkte Sprache des Reflexes und dies als Wiederholungszwang der Dramatisierung verdrängter Wünsche.
„Wenn Freud sich die Frage stellt, ob es beim Menschen etwas dem `Instinkt der Tiere´ Vergleichbares gebe, so findet er dieses Äquivalent nicht in den Trieben, sondern eben in den Urphantasien“, schreiben Jean Laplanche und J.-B. Pontalis in „Urphantasie, Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie“. Dieses „ursprüngliche Supplement“, Jacques Derrida, „urspringt“ … „mittels des Szenariums eines Imaginären“, Laplanche, Pontalis, über den Umweg nachträglicher „Repräsentanzen“, Freud, als sprechender Mensch und erzählt den `Urbruch´ seiner Geschichte, die seine Gründung ausmacht.

So heißt es 1999 anläßlich des „Alarmismus“ wegen der Elmauer-Rede von Sloterdijk bei Kritiken weiter:
„… so steht Sloterdijk für eine Gruppe ehemals linker Intellektueller, die ihre eigene Desillusionierung nicht aushalten und in den Wahn flüchten … Neu und unge-heuerlich ist die philosophisch drapierte Aggressivität …“
„… ihre eigene Desillusionierung nicht aushalten und in den Wahn flüchten … Neu und ungeheuerlich ist die philosophisch drapierte Aggressivität …“
„… fantasierte abstoßen der geleugneten psychischen Anteile einer Psyche in eine andere“
Es wird die Wirklichkeit zurück von den Füßen auf den Kopf gestellt. Die Dramatisierung verdrängter Wünsche der Schreiber toben sich hier als Projektion auf Sloterdijk aus, denn es wird sich nicht mit den Inhalten der Elmauer Rede, der „Kritik der zynischen Vernunft“ und der vielen Schriften von Sloterdijk auseinender gesetzt, sondern in aggressiver Sprache Neid, Eifersucht, Hass, Denunziation, Gerücht – das immer weiter geht als der Verdacht – und eigenes Elend des „zerrissenen Bewußtseins“ (Hegel) geradezu ekstatisch herausgeschleudert.
Das, wessen sie Sloterdijk bezichtigen, tun sie, nicht er.

Und weiter schreibt Reinhard Mohr in Der Spiegel, Nr. 39, 1999 über Sloterdijk:
„Schon vor einigen Jahren hat der geübte Provokateur des Zeitgeists in einem Bändchen unter dem Titel `Selbstversuch´ …“.
Ähnlich hatten Martin Walser und Botho Strauß, nachdem sie ähnlichen Angriffen ausgesetzt waren wie Sloterdijk, und auch Hans-Magnus Enzensberger, „innere Monologe“, „Selbstversuche“, veröffentlicht.
1977 wurde gegen Peter Brückner, Professor an der Universität Hannover, von der niedersächsischen Landesregierung ein Disziplienarverfahren eingeleitet, weil er sich als Beamter nicht von der anonymen Schrift eines Studenten, der sich „Mescalero“ nannte, und in der dieser von „klammheimlicher Freude“ in Zusam-menhang mit einem Mordanschlag der RAF schrieb, distanzierte, sondern darüber eine sozialpsychologische Studie schrieb, die als Untreue und Ungehorsam wider den Staat vom Staat gewertet wurde, und nicht als wissenschaftliche Freiheit.
Peter Brückner, „Die Mescalero-Affäre – Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur“; der Text beginnt mit dem Satz:
„Es ist an der Zeit, innere Monologe zu veröffentlichen.
Was ist ein Ereignis? Eine mögliche Antwort wäre: das pure Geschehen, das einer als `Ereignis´ definiert, indem er es für seine Zwecke verwertet. Also: Die herrschende Klasse hat aus dem `Mescalero´-Text ein Ereignis gemacht, indem sie ihn gemäß ihrer eigenen Strategien interpretiert hat; z.B. als einen Aufruf zur terroristischen Gewalt oder als Billigung eines Attentats, und den entstellten Text entsprechend nutzt. Die Fälschung einer Absicht und die Verwertung dieser Fälschung für den eigenen Zweck, das wäre das `Ereignis´ (und nicht der verwertete Text)“.
Zu dem „Brückner-Skandal“ schreibt Jürgen Habermas unter dem Titel, „Der Fall Brückner ist ein Fall Albrecht“ in „Zum Beispiel Peter Brückner“: „Was jeden, der sich mit der Republik, vor allem auch mit den Perspektiven, die diese für unser Land verkörpert, identifiziert, am Fall Albrecht erschrecken muß, läßt sich mit wenigen Sätzen sagen.
Der erste Aspekt betrifft das Persönliche. Peter Brückner hat die beste Analyse des Göttinger `Mescalero´-Artikels vorgelegt, die ich kenne. Er hat an diesem Beispiel im Detail den geistigen Zustand eines Teils der jüngeren Generation aufzuklären versucht, ohne zu denunzieren, aber auch ohne zu verharmlosen. … Spätestens bei der Lektüre hätten (oder haben?) Albrecht und seine Berater bemerken müssen, daß sie es hier mit einem nachdenklichen, vielleicht auch nachdenklich geword-enen Mann zu tun haben. Gleichwohl haben sie alles daran gesetzt, Brückners moralische und wissenschaftliche Existenz zu vernichten – und dies, wie man annehmen muß, aus Gründen schierer Opportunität“.

Reinhard Mohr:
„… so steht Sloterdijk für eine Gruppe ehemals linker Intellektueller, die ihre eigene Desillusionierung nicht aushalten und in den Wahn flüchten … Neu und unge-heuerlich ist die philosophisch drapierte Aggressivität …“
Und Peter Brückner schreibt:
„Das Neue, wo immer es warten mag, entzieht sich uns, soweit die unbewußte Herrschaft des Vergangenen reicht“.
Peter Brückner schreibt in seinem Buch, „Das Abseits als sicherer Ort“:
„Wie werden die `versunkenen Erfahrungen´ bewußt? Indem wir lernen, die Rätsel unserer Lebensgeschichte im Kontext der Geschichte unserer Gesellschaft zu lösen, und zwar im Detail … Das, vor allem, ist kritische Theorie“.
Klaus Briegleb zitiert Brückner im selben Buch:
„Auch dies, die reflexartige, affektive Ausgrenzung des Zweiflers, ist eine Seite des Gehorsams“.
Peter Brückner schreibt 1973 in „Kritik an der Linken“: „… die Linke kann daher, als ein Produkt dieser Gesellschaft, einen Teil ihres Selbstverständnisses aus den Händen ihrer Feinde entgegennehmen, solange sie sich nicht selbstkritisch als ihr Produkt begreift. Sie agiert dann, was sie zu reflektieren hätte.“
Fußnote: „Mit dem Erlöschen der (Selbst-)Reflexion ist bürgerliche Herkunft dann bei Genossen nur noch in der Aktionsform, als seiner Quellen nicht bewußtes Handeln, nicht mehr als Wissen nachweisbar“.
Adorno, „Theorie der Halbbildung“: „Die Kulturindustrie im weitesten Umfang jedoch, all das, was der Jargon als Massenmedien bestätigend einordnet, verewigt jenen Zustand, indem sie ihn ausbeutet, eingestandenermaßen Kultur für jene, welche die Kultur von sich stieß, Integration des gleichwohl weiter Nichtinte-grierten. Halbbildung ist ihr Geist, der mißlungenen Identifikation“.

In Der Spiegel, Nr. 38, 1999, schreibt der Philosoph Ludger Lütkehaus über Sloterdijk und seine Rede unter dem Titel: „Der Denker fällt vom Hochseil“, daß Sloterdijk sich „auf das riskante Hochseil“ des Themas wagt (ähnlich wie Manfred Frank lässt auch Lütkehaus erkennen, dass er eine Beschäftigung mit dem Thema für riskant hält, – riskant für den Beschäftiger – Selbstzensur?): „… die Gentechnologie, droht oder ermöglicht, dieses Hochseil zu knüpfen. Eine philosophisch kundig gemachte `Biopolitik´ soll sich ihren – im übrigen leider immer noch beschränkten – Kopf darüber zerbrechen, nach welchen Kriterien und zu welchen Zielen das geschehen kann. In Deutschland steht derlei aus evidenten historischen Gründen allemal unter NS-Verdacht“.
Und dann: „Der ausformulierte Vortragstext belegt diesen Verdacht nicht in dem Maße, wie man es nach den Frontalattacken der ersten Kritiker erwartet haben mochte … Vielleicht hat doch, wie Sloterdijk in seinem polemischen offenen Brief an Thomas Asseuer in der `Zeit´ vom 9. September unterstellt, etwas zu heftig die Glocke des – biopolitisch korrekten – `Alarmismus´ geschrillt“ … „Es ist Sloterdijk abzunehmen, daß seine Distanzierung von der NS-Eugenik und ihrer `gestiefelten´ Nietzsche-Lektüre keine leere Geste war. Und seine Heidegger-, Nietzsche- und Platon-Interpretation ist natürlich nicht umstandslos mit seiner eigenen Meinung kurzzuschließen. … Den allzu großzügig gewährten NS-Malus wird man zwar nach der Lektüre des Vortrags relativieren müssen. … Trotzdem ist die Fähigkeit des Textes und seines Autors gering, sich damit `Freunde zu machen´“.
Ein Philosoph soll denken und schreiben um sich Freunde zu machen?
Hans Mayer schreibt in „Zum Beispiel Peter Brückner“:
„Der `Fall Brückner´ – bzw. das, was die veröffentlichte Meinung … als `Fall´ plakatiert haben – wird in den Aufsätzen dieses Bandes in einer Weise analysiert, die an die Stelle von Verdächtigungen und Ahndung die Anstrengung des Begriffs und die Diskussion setzt. … Seit am Tun der Ärzte ebenso wie der Physiker der Konflikt einer praxislosen Wissenschaft als einer virtuell unmenschlichen erkannt wurde, kann praxislose Wissenschaft, ´interesseloses Wohlgefallen´ des Denkens am Denken gesellschaftlich nicht mehr toleriert werden. Ist dem aber so, dann hat Brückner als Lehrer und Forscher die Freiheit des Gelehrten erfüllt, nicht verraten“.
Reinhard Mohr wirft Sloterdijk vor: „In gleich zwei Antworten, die er als offene Briefe an die „Zeit“ schickte, ging Sloterdijk aber gar nicht erst auf die Substanz der Kritik ein …“ (die `Kritik´ der Journalisten).
Die nicht vorhandene sogenannte Substanz ist die inszenierte Denunziation – das Ekstase-Ereignis.

Alle Jahre wieder … holungszwang: 21.12.2002, „Der Spiegel“. – Einige Wochen früher war auch in „Die Zeit“ pünktlich ein Artikel von Thomas Asseuer erschienen, brav, gehorsam und kleinlaut. Thema: Linken Intellektuellen seien die Visionen, Utopien ausgegangen (mit seinem aktuellen Artikel über fünfzig Jahre „Das Prinzip Hoffnung“ gibt er womöglich endgültig auf). Man ahnte, das ist der „Vorschein“ der nächsten Panikattake, des nächsten Amok-Ereignisses.
Broder/Mohr nun titeln also ihren Artikel „Herr der Blasen“, Untertitel: „Peter Sloterdijk, philosophischer Jungstar der achtziger Jahre, wird durch abstruse Äußerungen über Terror, Gentechnik und Popkultur immer mehr zum Felix Krull der intellektuellen Szene.“

Textzitate:
„Seit 20 Jahren irrlichtert er durch die intellektuelle Szene …“
„… das gelichtete Haupthaar Gérard-Depardieuhaft länglich tragend …“ (schon wieder, die Haarpotenz macht der `Blase´ zu schaffen),
„… weshalb es nur einen gibt, der sich dem Mainstream verweigert und Verfolgung in Kauf nimmt? Was für Martin Walser die `Meinungspolizisten´ sind, die ihn bedrohen, das sind für Sloterdijk die `Feldprediger´ und `polemischen Manichäer´. Wie Walser nennt auch Sloterdijk keine Namen. Ross und Reiter bleiben im Zwielicht der Unterstellung.“ („Auch im Hasse gibt es Eifersucht: wir wollen unseren Feind für uns allein haben“, Nietzsche).
Weiter: „Keine zwei Wochen nach den Terroranschlägen begann er mit der philosophischen Relativierung des Massenmordes in einer Kälte und Mitleidlosigkeit, die an Doktor Frankensteins Schreckenskammer erinnern“. „Es ist diese Art intellektueller Verwahrlosung …“
„… ein Pastor Fliege der Philosophie“
„Bei Frauen und bei Juden hält sich Sloterdijk noch zurück …“
In „Die Woche“ vom 9.11.2001 erschien ein Interview des damaligen Woche-Herausgebers Manfred Bissinger mit Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Thema der Folgen des „11. Septembers“. Eine seiner Fragen betraf die Bemerkung von Peter Sloterdijk über Otto Schily, ob dieser „als deutscher McCarthy in die Geschichte des Ungeistes“ eingehen wolle.
Gerhard Schröder antwortete Bissinger: „Masslosigkeit ist das Vorrecht der übermässig Begabten“.
Und Broder/Mohr schreiben in ihrem Artikel:
„… ein unmässig belesenes Multitalent, ein Vielschreiber, Philosoph, Schriftsteller, Polemiker, Moderator und Zeitgeistfuzzi …“
Im Mai 1933 sagte Josef Goebbels: „Das Zeitalter des überspitzten jüdischen Intellektualismus ist vorbei“.
Fünf Jahre später, am 13.5.2004, schreibt der Philosoph Ludger Lütkehaus in Die Zeit über den dritten Band der Sphären-Trilogie, „Schäume“ (Band 1 „Blasen“ und Band 2 „Globen“) von Peter Sloterdijk.
Hatte Lütkehaus seinen Artikel wegen der Elmauer-Rede „Der Denker fällt vom Hochseil“ betitelt, titelt er jetzt „Schaumdeutung“. Und die Unterzeile: „Metaphern-delirien und höchste Komplexität“.
Als Blochs „Prinzip Hoffnung“ erschien, titelte Ludwig Markuse 1960 in der Stuttgarter Zeitung (aus „Ein Arbeitsbuch zum 90. Geburtstag“) seine Besprechung: „Bewunderung und Abscheu“;
„… ähnelt dieser Mann gewissen legendären rabbinischen Schlauköpfen … in märchenhaften Geschichten und Geschichtchen, in raffinierten Thesen, in Witzen voll Fussangeln und verspielten Wendungen …“,
„… eine one-man-show …“,
„… als philosophischer Schriftsteller ist Bloch ein echter Jünger Friedrich Nietzsches …“,
„… Ernst Bloch ist üppig im Illustrieren und Ausschütten von Worten … der Leser geht unter in der Flut von Material und Sätzen …“.
„… 1600 vollgepackten Seiten …“,
„… dieses Buch mit dem wärmenden Namen `Hoffnung´ ist eiskalt …“.

Ludger Lütkehaus:
„Der Sloterdijkerfahrene Leser nickt anerkennend: Auf Fremdwörterexzesse und Metapherndelirien als die herausragenden Merkmale eines Denk- und Sprachstils, der mit dem Autismus einer Privatsprache zwischen Mystik und Potpourri alles mit allem verbindet und selbst schlichteren Themen höchste Komplexitäts-grade abgewinnt, ist hier Verlass. Die Blasen platzen, die Globen rotieren, und die Schäume schäumen so, dass der Philosoph als Schaumdeuter gefordert ist. Das Werk leistet Erklecklichstes an unfreiwilliger Komik. Schwierig – zu schwierig – ist es, keine Satire zu schreiben … Ein Monsterwerk von 2.500 Seiten, überbordend an allem“.
„… die von Selbstironie freie herrische Geste …“,
„… konvertiert er hier vollends vom Kritiker zum Propagandisten der zynischen Vernunft …“,
„… im monströsen Schlussteil, kommt es knüppeldick …“,
„… Sloterdijks Positivismus entpuppt sich als denunziatorisch …“,
„In der Tat könnte man in der Forcierung der Immunitätsmotive den Debattennachfolger der `Regeln für den Menschenpark´ entdecken. Einstweilen verwöhnt Sloterdijk seine Leser mit der Synthese von Schaumdeutung und Stammtisch.“
Lütkehaus unterliegt nun auch dem nachahmenden, gehorsamen Funktionärs-Anerkennungskampf und begibt sich auf das Niveau der zensurholistischen Hyliker-Atlethen hinab.
Kerstin Decker schreibt zu Sloterdijk am 17.5.04 in Der Tagesspiegel: „Der Oberverdächtige der deutschen Philosophie, Peter Sloterdijk, tritt als neobarocker Grossschriftsteller auf und das Unerhörte ereignet sich: die `Sphären´ sind mehrere Tausend äusserst lesbare, sogar unterhaltsame Seiten Philosophie. …
Sloterdijk verstösst mit seinem Sphärenprojekt gegen das Grundverbot der neueren Philosophie: Keine Ontologie! Also keine Seinslehre. Die alte Metaphysik ist tot. …
Die klassische Metaphysik wird in Philosophieseminaren landauf landab täglich neu erlegt, nur um die Leiche dann achtlos liegenzulassen. Die formalisierte Philosophie in ihren analytischen, kommunikations-theoretischen und sonstig konstruktivistischen Hauptströmungen kann mit der Toten nichts anfangen, aber sie bewacht sie gut. Sloterdijk bringt ihre Bedeutungskerne wieder zum sprechen. … Sloterdijk sagt, Philosophen, die erst 2000 Jahre tot sind, empfinde er als Zeitgenossen. Natürlich ist es eine Frage des Standpunkts und seiner Akustik, ob man die Stimmen der anderen hören kann oder nicht. Hermeneutiker, philosophische Textdeuter also, hören zwar auch immer Stimmen, aber nur solche aus alten Texten. Sloterdijk hört Textstimmen und Wirklichkeitsstimmen gleich dazu.“

Juni 2013: Broder nennt Sloterdijk „Terrorversteher“

Rolf Ekensheyde-Horst