„Wage zu wissen!“
Vom Bildungsbürger
zum Bewusstseinsbürger
Vor fast zweieinhalbtausend Jahren sagte der Philosoph Sokrates zu dem jungen athenischen Politiker Alkibiades:
„Du leidest, mein Bester, an der schlimmsten Art des Nichtwissens. … Darum wirfst Du Dich jählings auf die Staatsgeschäfte, noch ohne jede Vorbildung dafür. Du bist aber nicht der Einzige, mit dem es so geht, mit fast allen hiesigen Staatsmännern steht es ebenso, und es gibt nur wenige Ausnahmen. … Darum, mein Teuester, folge mir und dem delphischen Spruche: Erkenne dich selbst“
(Platon, „Alkibiades der Erste“)
„Die Entstehung der Armut ist überhaupt eine Folge der bürgerlichen Gesellschaft, und sie ergibt sich im ganzen notwendig aus derselben …
Es häuft sich so Reichtum ohne Mass und Grenze an der einen und Not und Elend an der anderen Seite …
Die Vermehrung des Reichtums und der Armut hält gleichen Schritt … Mit der nhäufung der Reichtümer entsteht das andere Extrem, Armut, Not und Elend …
Nicht nur die äussere Not ist es, die auf dem Armen lastet, sondern es gesellt sich dazu auch moralische Degradation …
Diese beiden Seiten, Armut und Reichtum, machen so das Verderben der bürgerlichen Gesellschaft aus“
G.W.F. Hegel
„Vorlesungen über die Philosophie der Religion“
Bildungsbürger und Bewusstseinsbürger
Vor fast zweieinhalbtausend Jahren sagte der Philosoph Sokrates zu dem jungen athenischen Politiker Alkibiades: „Du leidest, mein Bester, an der schlimmsten Art des Nichtwissens. … Darum wirfst Du Dich jählings auf die Staatsgeschäfte, noch ohne jede Vorbildung dafür. Du bist aber nicht der Einzige, mit dem es so geht, mit fast allen hiesigen Staatsmännern steht es ebenso, und es gibt nur wenige Ausnahmen. … Darum, mein Teuester, folge mir und dem delphischen Spruche: Erkenne dich selbst“ (Platon, „Alkibiades der Erste“).
Seit dem frühdemokratischen Bürgertum Athens und dann Roms sind die Bürgerlichen Gesellschaften nach zweieinhalb Jahrtausenden ihrer Entwicklung an Grenzen geraten, welche Veränderungen der Verhältnisse und Selbstveränderung der Akteure und der Empfänger von Politik signalisieren. Akteure, welche aktiv am gesellschaftlichen und politischen Geschehen teilnehmen, „gestalten“ und „Verantwortung übernehmen“. Empfänger, Bürger, welche das egoistische und unbewusste Agieren der Akteure „ohne jede Vorbildung“ für „die Staatsgeschäfte“ zum Schaden anderer nicht mehr hinnehmen wollen. Das politische Bürgerleben in der modernen Demokratie beinhaltet konkret, dass Bürger gesellschaftliche Subjekte und Objekte sind: des Rechtswesens, als Gesetzestreue und als Kläger oder Beklagte, der Religionen, als Gläubige und Ungläubige, der Medien, als Publikum und als Kommentatoren (Internet), der Medizin, als Klient, der Wirtschaft, als Arbeiter, der Sozialbehörden, als Nichtarbeiter und unterbezahlter Arbeiter, der Freizeitindustrie, als Freizeiter und Tourist, der Markenartikler, als Konsumenten. Und der Bürger ist speziell mittels des Bildungswesens, welches sich durch alle genannten gesellschaftlichen Kategorien zieht, Bildung durch Eltern und Milieu, Schulen, Berufsleben, Medien, Bildungsbürger oder Infobürger der „Wissensgesellschaft“, je nach sozialer Herkunft. Jedoch mangelt es dem Bildungsbürger und dem Infobürger an Selbsterkenntnis, individueller wie kollektiver, der „schlimmsten Art des Nichtwissens“. Insbesondere der Bildungselite fehlt es so zum Bewusstseinsbürger zu werden. Der Bewusstseinsbürger ist es, über den Sokrates Alkibiades, der Staat und Menschen lenken will, aufklärt: der gebildete, politische selbstreflektierende Bewusstseinsbürger. Die Ekstasen um zu-Guttenberg und um Bundespräsident Wulff haben gezeigt, dass die Bildungselitler und Amtsinhaber Bewusstsein und Unbewusstsein haben und Ansätze von Selbsterkenntnis, wenn auch widerwillig, inklusive Abwehrspektakel, Verleugnung, Verschiebung, und dass sie keineswegs nur Amtzombies, seelenlose Wesen, sind. Demokratie ist u.a., wenn jeder sagen kann, was er will und nicht alles machen kann, was er will.
Zwei Wesensgründe sind dafür, dass Gesellschaften seit der Antike an Grenzen geraten und Veränderungen signalisieren. Produktion von übermässigem Reichtum für zu Wenige und übermässige Armut für zu Viele, und ebensolche ungleiche Verteilung von Bildung, Bildungsbürger und Infobürger, mangelnde Erziehung zu Erkenne-dich-selbst-Bewusstsein, zum Bewusstseinsbürger. Die bürgerliche Erziehung hat eine Bildungs-Meinungs-Elite etabliert, welche die bürgerlichen Gesellschaften prägt und trägt. Sie gelten als höhere Bewusstseine, dass von Armen als niedere Bewusstseine. Und in eben diesen höheren Bewusstseinen sind die einen in ein Mass von Abwehr und Widerständen und andere in Selbstzweifel geraten, wie wohl nie zuvor. Und andererseits wächst ein Mass und eine Qualität von Kritik an den Bildungs-Meinungs-Eliten von den Geschädigten der Bürgerlichen Gesellschaften und denjenigen, die aus diesen heraus gedrängt sind, dem sich die Eliten nicht mehr zu entziehen vermögen. Weltweite Empörung der Bürger gegen ihre bürgerlichen Bildungs-Meinungs-Eliten, und in Diktaturen gegen ihre Gewaltherrscher, mit Empörung und Zorn, mit Wut, Mut und Hoffnung.
Warum haben seit ca. 600 vuZ. diese inhumanen Ungleichheiten ihren Lauf genommen, – obwohl damals, als die politischen Gruppen, Gesellschaft, die Wirtschaft und die Sittlichkeit in Athen zerrüttet waren, der athenische Gesetzgeber und einer der Sieben Weisen, Solon, der Gründer der athenischen Demokratie, gepriesen hatte, mit Wenigem glücklich zu sein, Neid, Geiz, Habgier, Übervorteilung zu verhindern, Tugend statt Überfluss zu leben, und er ermöglichte dem Volk geistige Bildung und handwerkliche Ausbildung, verbot die Schuldknechtschaft, kaufte die versklavten Bauern zurück, verbot den Export von Getreide um möglichen zukünftigen Hunger in der Bevölkerung vorzubeugen, und schliesslich tilgte Solon die allgemeinen Schulden der Kleinbauern und verkündete, zu grosser Besitz des Adels soll geteilt und die Pachtzahlungen aufgehoben werden. Und Solons Kollege, Thales von Milet, der als erster Philosoph gilt, antwortet in „Das Gastmahl der sieben Weisen“ des Geschichtsschreibers Plutarch auf die Frage, was der beste Staat sei: „Der weder allzu Reiche noch allzu Arme hat“. Soweit die ursprüngliche Bildungselite.
Und warum und in welcher Weise konnten sich diese inhumanen Ungleichheiten so lange halten?, – oder sind zweieinhalb Jahrtausende im Geschehen der Selbstbewusstseins-Menschheitsgeschichte kein langer Zeitraum?, ist die Antike `Gestern´? Was würden Solon heute tun und Thales heute antworten?
Beliebter als Selbstreflexion der Software Unbewusst/Bewusst ist die Hardware „Praxis“, Agieren, agieren von psychologischen Wiederholungszwängen bei Bürgerlichen und bei Linken, bei Reichen und auch bei Armen, bei Bildungseliten und bei Empörten, immer die gleichen Muster, individuell und in Gruppen.
Im Oktober 2011 assoziierten die Moderatorin Tina Mendelsohn und der Philosoph und Soziologe Oscar Negt in einem Gespräch in „Kulturzeit“ von 3SAT-TV zu den weltweiten Protesten die „Französische Revolution“, und dass diese „auch mal klein angefangen habe“. Vor der Französischen Revolution bestanden Finanzprobleme als Dauerzustand, Verteuerungen der Waren, Widerstand von Privilegierten gegen Veränderungen zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Aufklärung und Politisierung der Bewusstseine. Dann folgte schliesslich die berüchtigte „Schreckensherrschaft“ und darauf die Machtstabilisierung des reichen Grossbürgertums, des Adels, statt Selbstreflexion. Ähnliche Abläufe finden sich während und nach Revolutionen und – in anderer Weise – auch nach Kriegen im 20. und 21. Jahrhundert.
Das Subjekt, das Ich wehrt sich aktuell. Die Software, die Phantasie, das Denken des Individuums will die Verhältnisse politisch ändern. Sein äusseres Leben positiv verändern geht bereits einher mit dem Sichändern, kann jedoch unreflektiert bleiben, das Individuum selbst. Auf bewusste Selbstreflexion des Bewusstseins kommt es an, um sich der Herrenpolitik der Herren-Über-Ichs, seit Generationen von den Vätern auf die Söhne vererbt, innerlich zu widersetzen, auf lange Sicht, während und `nach´ Veränderungen des Aussen. ICH statt Gehorsam.
So geht es hier bürgerlich und links um Unbewusstes und Bewusstes, Unbildung und Bildung, die Selbstaneignung des Individuums und der Gruppen und nationalen und globalen Ensembles, um ihre Verdrängung von Langeweile und so genannter Depression mittels uralter Ekstasen, von Medien als Selbsterfahrungsopern wie „Gottesbeweise“ inszeniert, vom Bildungsbürger zum Bewusstseinsbürger, als der Sokrates auftrat, und es geht um den `ewigen´ Zustand von Reichtum und Armut, dem unterschiedlichen Elend in armen Ländern und in reichen Ländern, von der Altsteinzeit bis in die `heutige Jungsteinzeit´.
„Tarnumhang“
Der Herausgeber der bürgerlich-konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, schreibt am 15.8.2011 unter Stichwort „Bürgerliche Werte“: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat. Im bürgerlichen Lager werden die Zweifel immer größer, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang. Gerade zeigt sich in Echtzeit, dass die Annahmen der grössten Gegner zuzutreffen scheinen“.
Finanzmarktpolitik und Ökonomie, Ökologie und Atomkraft, Bildung und Erziehung, Sozialpolitik und Rechtspolitik, Realpolitik und Pragmatismus, überhaupt bürgerliche Politik wird nun auch auf der bürgerlichen Seite als das wahrgenommen, was sie immer war: Herrenpolitik, – und überwiegend nicht anders linke Politik. Hinter der sachlichen Ausübung von Herrenpolitik, der Praxis, steht das einzelne Subjekt und derart auch als Gruppenindividuum, die seelisch-geistige Person. Herrenpolitik setzt sich als Herren-Über-Ich seit Generationen fort, von den Vätern auf die Söhne. Und wenn `richtige´ Theorien, Wahrheiten, Realitäten, z. B. der Skandal der Armut, „Mord“, wie Jean Ziegler sagt, mit politischer Praxis parteilich-autoritär „bekämpft“ werden, bleibt auch die Bearbeitung von Wahrheiten Herrenpolitik, mit den entsprechenden Selbstverleugnungen, Widerständen und Abwehr, Grössenwahn und Verfolgungswahn, Lügen, Rollen, Masken … und Projektionen, und mit den entsprechenden Unlösungen.
Schirrmacher weiter: „Es geht darum, dass die Praxis dieser Politik wie in einem Echtzeitexperiment nicht nur belegt, dass die gegenwärtige `bürgerliche´ Politik falsch ist, sondern, viel erstaunlicher, dass die Annahmen ihrer grössten Gegner richtig sind“.
Schirrmacher erkennt falsche bürgerliche Politik, und schliesst kurz, dass die der Linken richtig ist, so, wie er und seine Bürgerkollegen kurzsichtig lange daran geglaubt und festgehalten haben, dass ihre bürgerlichen Herrenexistenzen das wahre Leben sei. Schirrmachers „bürgerlicher Werte“-Identität wackelt. Bewegt zitiert er den „erzkonservativen Charles Moore im Daily Telegraph“, welcher nach dreissig Jahren als Journalist an bürgerlicher Politik zweifelt, weil „linke Analysen“ sich als richtig erweisen: „Die Stärke der Analyse der Linken liegt darin, dass sie verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern“.
Nicht nur sie, Linke sind darin ebenso gierig wie Bürgerliche, ob als Politiker, Kleinunternehmer, Angestellte oder `Freie´, – die ewigen Kleinbürger. Auch sie haben eine Sprache der Tarnung und ebensolche Praxis. Es sind die Tarnumhänge der Widerstände und Wiederholungszwänge gegen Selbsterkenntnis. Statt dessen wird „Praxis“ agiert.
Schirrmacher weiter: „,Globalisierung‘ zum Beispiel sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen. Die Banken kommen nur noch ,nach Hause‘, wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere Regierungen ihnen neues“.
Die Gier der Banken ist die Gier der Einzelnen und damit die Politik der Bürgerlichen: Christen, Liberale, Sozialdemokraten, Grüne, Linke mehr oder weniger.
Schirrmacher schliesst seinen Artikel: „Ein Bürgertum, das seine Werte und Lebensvorstellungen von den `gierigen Wenigen´ (Moore) missbraucht sieht, muss in sich selbst die Fähigkeit zu bürgerlicher Gesellschaftskritik wieder finden. Charles Moores Intervention zeigt, wie sie aussehen könnte“.
In sich zu gehen ist leichter gesagt als getan. Denn wer sich dreissig Jahre über die Menschheitsgeschichte belastende Realitäten irrt, irrt ursächlich, persönlich, ichhaft. Sich den Missbräuchen und Irrtümern des eigenen Bewusstseins und Gedächtnisses zu stellen, ist eine ichhafte Schwierigkeit ersten Ranges. Zwischen `uns´ stehen Widerstände, Abwehr, Ängste, Schuldgefühle, Grössenwahn, Verfolgungswahn, Lügen, Rollen, Masken … und Projektionen. Immerhin aber wird erkannt, dass man „in sich selbst die Fähigkeit zu bürgerlicher Gesellschaftskritik wieder finden“ muss. Und schon blitzen am Schluss des Artikels Widerstände und Abwehr auf: „… gierigen Wenigen“ (Moore), verschiebende Projektionen auf andere, als wäre Gier nicht ein menschlich immanenter Triebaffekt mit Phantasien und globaler Praxis, bürgerlich wie teilweise links. Deswegen wurde Peter Sloterdijks Vorschlag der „gebenden Hand“ hier wie dort empört unverstanden.
Nicht anders ergeht es uns, wenn wir ins kollektive Gedächtnis einsteigen: „Die Stärke der Analyse der Linken liegt darin, dass sie verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern“ (haben Linke in ihrer Weise und für ihre Zwecke ebenfalls getan). Die kollektiven Gedächtnisse werden über Gehorsam durch Ideologien, Manipulationen, Lügen, durch Schuldgefühle und Grossängste und Grossgrössenwahne gespeist – und Projektionen. Widerstände und Abwehr werden mächtig aufgebauscht und gefüttert. Der „Tarnumhang“ ist eine individuelle und eben auch eine kollektiv-historische Entwicklung, insbesondere seit der Neuzeit. Die Neuzeit begann ihr 16. Jahrhundert damit, alles von Grund auf umzustossen um Besseres zu sollen und zu wollen, da die Menschheit noch nie in menschenwürdigen Verhältnissen gelebt hatte. Moral des Sollens als Form sozialer Vernunft, aufgrund mangelnder Eigengestaltung, Kultivierung der menschlichen Natur selbst, obwohl Selbstreflexion bereits von den antiken Griechen gefordert war. Also bildete sich seit der Antike historisch-genetisch Moral gemeinsam mit Vernunft als prozessuale. Der Mensch ist von Natur aus nicht schlecht oder gut, er ist a-moralisch – und auch egoistisch, gierig, – und altruistisch.
Moral heute kann sein, Armen ein besseres Leben durch den vorhandenen Überreichtum zu ermöglichen, weil Armut unmoralisch und unvernünftig ist, oder/und Armen ein besseres Leben zu ermöglichen, weil ansonsten Überreichtum und alle Verhältnisse umgeworfen werden könnten. Das erkenntnistheoretische Interesse an Moral ist politisch motiviert, weil die aktuelle Krise, der reale Zustand als Teil des Systems, schier unüberwindbar scheint. Vielleicht ist beides moralisch und vernünftig: vernünftiges Mitgefühl und vernünftiger Realitätssinn. Und beides könnte vernünftiges Recht sein, Erlernbar für das Bürgertum und für das Linkstum.
So könnte der „Tarnumhang“ kollektiv gelüftet werden. Kollektive Änderung jedoch, das Ändern der Verhältnisse, fällt, nach dem jungen linken Marx, mit dem Sichändern zusammen („Deutsche Ideologie“). „Du musst dein Leben ändern“, heisst es wegen Heine aktuell bei Peter Sloterdijk. Und: die Geschichte der geistigen Menschheit begann um 600 vuZ. mit „Erkenne dich selbst“. Es bildete sich die Demokratie in Griechenland. Gleichzeitig wirkte das damals weltberühmte, globale Orakel zu Delphi. Das Delphischen Orakel war ursprünglich der aus der Zeit der Frauengesellschaften stammenden weiblichen Urgottheit Gaia geweiht, und nun durch den Gott Apollon ersetzt worden, der den Übergang zu Männerherrschaft und Herrendenken symbolisierte. Jedoch weissagte das Orakel durch mehrere weibliche Medien, zu förderst durch das Medium Pythia, und zwar in Ekstase. Ausgelegt wurden ihre Sprüche durch männliche Apollopriester. Derart war das Orakel zum therapeutischen Grossmedium aufgestiegen. Und gleichzeitig paarte sich mit diesem sich zwischen Wunsch und Wirklichkeit der Ratsuchenden bewegenden Marketinginstrument der Beginn der Entwicklung des Bewusstseins, des philosophischen Denkens: am Eingang des Tempels hatte einer der Sieben Weisen – wahrscheinlich – Chilon von Sparta, oder Thales von Milet, der als erster Philosoph gilt, oder ein anderer, die Botschaft geschrieben: „Erkenne dich selbst“.
Ausgerechnet also am Eingang des Tempels des Orakels wurde diese Botschaft festgeschrieben, als Aufforderung, selbst zu denken, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, den Balken im eigenen Auge, statt den Splitter im Auge des Anderen zu sehen, seine Seele zu gesunden, statt die Welt zu gewinnen, Selbsterfahrung als therapeutisches Lebens- und Überlebens-Training, als ständige, zum Leben gehörende, und nicht nur bei schwierigen Fragen und Problemen anzuwendende Übung des Geistes und der Seele.
Gesellschaftlich markiert „Erkenne dich selbst“ den Übergang von der Zeit der Ängste, Ekstasen und Mythen hin zur Zeit des Geistes, der Vernunft, der Selbstreflexion. Das Orakel war ein politisches Instrument zur Steuerung des Zeitgeistes und der Gesellschaften. Dies wird als der Beginn der geistigen und der seelischen historischen Geschichte verstanden. Mit dem Orakel und den Sieben Weisen flossen bisheriger Mythos und neuer Geist ineinander. Die ersten Philosophen nach den Sieben Weisen verstanden „Erkenne dich selbst“ im Sinne von „Erkenne, Mensch, dass du ein Mensch (und kein Gott) bist“. Selbsterkenntnis war für Sokrates das Wissen um die eigene Sterblichkeit und das Wissen um das Nichtwissen. Richtige Selbsterkenntnis hiess Besonnenheit und massvolles Verhalten, Selbstprüfung der individuellen Defizite, und wie Platon aufforderte: „Sorge um die Seele“. Sie, die Seele, ist in der „Illias“ bei Homer „eidolon“, das Abbild oder Schattenbild des Menschen.
Dies ist die Entdeckung des Selbstbewusstseins, die Erkenntnis der Seele, die für Platon göttlich und unsterblich ist. So ist der Mensch geistiges und göttliches Wesen. Und Aristoteles verpflichtet den Menschen zu richtiger Lebensführung. Die Neuplatoniker später verstanden „Erkenne dich selbst“ als Ermutigung zu Verinnerlichung und zu geistigem Aufstieg. Schon der erste Philosoph, Thales von Milet, hatte gefragt: Was ist der Mensch? Er richtete seinen Blick auch auf ein äusseres Ich, welches mit der Natur ausserhalb des Menschen und dem gesellschaftlichen Ensemble zusammen hängt. Und auf die Frage, was das Schwerste im Leben sei, antwortete Thales: Sich selbst erkennen. Schliesslich fragte Sokrates: Wer bin ich?, und er fügte hinzu: Ich weis, dass ich nicht weis, – was Immanuel Kant 2000 Jahre später enthusiastisch pries.
Aristoteles schrieb ein Lehrbuch „Über die Seele“, Platon entwickelte ein Schichtenmodell der Seele, mit Stufen des Bewusstseins, das Sigmund Freud über zweitausend Jahre später zu einem psychodynamischen Modell ausbaute. Die philosophische und psychologische Suche nach Wahrheit und Wesen des Menschen und der Welt, nach Ethik, Moral, dem Guten und dem Bösen, dem Schönen und dem Hässlichen, wie Menschen in Glück und Freiheit zusammen leben könnten, war in Bewegung. Dies bezog sich jedoch ausschliesslich auf die griechischen und später die römischen männlichen Bürger, nicht auf die Sklaven, nicht auf die armen Arbeiter, die „Menschenfüssler, und nicht auf die Frauen der Bürger, und nicht auf deren Kinder.
Bürgerliche und linke Bildungs-Meinungs-Eliten
Die psycho-intellektuelle Selbstreflexions-Kultur der bürgerlichen und der linken Bildungs-Eliten seit dem 2. Weltkrieg ist ursächlich in die subjektiven und kollektiven gesellschaftlichen Desaster verwickelt. Deswegen läuft es bei Licht betrachtet darauf hinaus, nicht nur die Verhältnisse zu ändern, vielmehr sich selbst zu erkennen, sich zu ändern und derart die Verhältnisse produktiv zu ändern, und sich im Ändern der Verhältnisse weiter zu verändern.
Es geht derart um die gegenwärtige Existenz-Ernstfall-Atmosphäre von Meinungs-Bildung, insbesondere bei Meinungs-Bildungs-Eliten, um den Spannungsbogen „Bürgerlicher Werte“ von: „Bild Dir Deine Meinung“ bis hin zu: „Wage zu wissen!“ („Dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude, incipe“, Horaz, Kant, Schiller), sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, statt in Unmündigkeit zu verharren.
Aktuell steht der höchste Mann im Staat Deutschland beispielhaft für: „Du leidest, mein Bester, an der schlimmsten Art des Nichtwissens. … Darum wirfst Du Dich jählings auf die Staatsgeschäfte, noch ohne jede Vorbildung dafür. Du bist aber nicht der Einzige, mit dem es so geht, mit fast allen hiesigen Staatsmännern steht es ebenso, und es gibt nur wenige Ausnahmen“. – Der `kleine´ Christian Wulff wurde von zwei Männern verlassen. Zuerst vom leiblichen Vater, Jurist, konservativer Katholik. Die Eltern trennten sich als er zwei Jahre alt war, die Mutter erzog ihn alleine. Während seiner Pubertät verliess der zweite Mann der Mutter, sein Stiefvater, sie und ihn. Von Vätern verlassen aufwachsend wird er als Schüler in die CDU eintreten, männlichen Umgang und Ersatzväter suchen (den konservativen katholischen Politiker Werner Remmers nennt er seinen „politischen Ziehvater“). Wulff legt Wert auf „Freunde“, sagte im Interview mit Deppendorf und Schanzen, dass es ihm wichtig sei bei Freunden zu übernachten und mit ihnen zusammen zu kochen und zu frühstücken. Der `kleine´ Christian vermisst immer noch die grossen Männer und sucht so die Nähe zu starken Freunden, will an die Grossen ran, die Reichen und Mächtigen, die, die im Licht stehen. Und er gehört zum CDU-Männerbund „Andenpakt“, von 1979 bis noch 2007.
Der Junge Christian übernahm die Pflege der an Multipler Sklerose erkrankten Mutter. Und er half bei der Erziehung der jüngeren Halbschwester; eine weitere jüngere Halbschwester hat er aus der neuen Partnerschaft seines Vaters. So wächst er überwiegend vaterlos in einem Frauenhaushalt auf, erzogen von der Mutter.
Wulff studiert nun Jura in der Stadt in der er geboren wurde und in der er dauerhaft lebt, Osnabrück. Nach dem Studium arbeitete er als Rechtsanwalt in einer Anwaltssozietät in Osnabrück.
Und hier in Osnabrück lernt Christian seine erste Frau Christiane kennen, mit der er später eine gemeinsame Tochter hat. Nach achtzehn Jahren Ehe in Osnabrück ändert Wulff mit Ende Fünfzig sein Leben: Wulff verlässt die Familie und liiert sich mit der jungen Bettina. Bettina Körner hatte ihr bisheriges Leben in Grossburgwedel und Hannover als Pressereferentin verbracht. Nun beginnt für den melancholisch-phlegmatischen Charakter Christian Wulff mit der lebhaften sanguinen Bettina Wulff das wahre Leben, die wahre Anerkennung. Das Amt des Bundespräsidenten kommt da wie gerufen. Heraus aus der Provinz, hinein in die grosse Welt. Ein Spiel, wenig Arbeit. Bereits das Amt des Ministerpräsidenten hatte in Niedersachsen und teilweise bundesweit ermöglicht, dass Christian Wulff und auch Bettina Wulff umworben wurden von denen, die in gewissem Licht stehen und ihrer Zeigelust nachgehen.
Die Bundespräsident-Ekstase – wie viele andere – haben gezeigt, dass die Bildungselitler und Amtsinhaber Bewusstsein und Unbewusstsein haben, keineswegs nur Amtzombies, seelenlose Wesen sind. Demokratie ist, wenn jeder alles sagen kann, was er will und nicht alles machen kann, was er will. Christian Wulff unterscheidet sich von vielen seiner Kollegen dadurch, dass er bewusst kaum destruktive, gar kriminelle Neigungen hat, wie seit Strauss zahlreiche Politiker. Wulffs unreifes Vergehen, insbesondere für den Berufungsberuf Politiker, dessen Ansinnen es ist, für die Leben der Bürger Entscheidungen zu treffen, ist die erworbene unbewusste Unwissenheit und „selbstverschuldete Unmündigkeit“.
Wenn Wulff also aus privaten Gründen vom Amt des Bundespräsidenten zurückgetreten ist, dann somit inklusive seiner privaten „selbstverschuldete Unmündigkeit“, seiner mangelnden Selbstreflexion, mangelndem Wissen über sich selbst.
Über Wochen wurden seine Sünden veröffentlicht. Bei all seinem korrupten Agieren, er ist aktueller Sündenbock der in Umbruch befindlichen Gesellschaft. Wenn das mal gut geht.
„Wage zu wissen!“ entwickelte Kant aus dem berühmten Satz des Sokrates: „Ich weiss, dass ich nicht weiss“. Sokrates meint die Entwicklung der eigenen Erkenntnis, welche begreift, sofern man sich bemüht, dass Wissen meist vermeintliches ist, Scheinwissen, Meinung statt Wissen, und somit das Bewusstsein des Nichtwissens aufgeht. Und Sokrates´ Urahne Homer hatte im zweiten Gesang der Illias verkündet: „Kündet ihr Musen mir jetzt, die ihr hauset im hohen Olympos: / Göttinnen seid ihr, allgegenwärtig und alles erkennend: / Unser Wissen ist nichts, wir horchen allein dem Gerüchte“.
In der Praxis ist Entwicklung von Erkenntnissen über das eigene Bewusstsein des Nichtwissen allgemein und in der Bildungselite insbesondere unbeliebt, Verdrängungs- und Verleugnungs-Kultur macht sich niedertriebig breiter. Damit einher geht ein Verlust von Respekt vor dem anderen und Manieren des Umgangs. Kritikern wird mit Vorwürfen begegnet: sie unterdrücken die Meinungsfreiheit, seien undemokratisch, dies oder das wird man wohl noch sagen und tun dürfen …
Beliebter als die Software Selbstreflexion ist die Hardware Aktion. Was Empörung und Protest gegen autoritäre Verhältnisse betrifft: Ausserparlamentarischer Widerstand begann nach Gründung der Bundesrepublik wegen Einführung der Bundeswehr und Wiederbewaffnung. Es folgte die Anti-Atomwaffen-Protestbewegung und die der Kriegsdienstverweigerer, die Friedensbewegung, Frauenbewegung, Bewegung gegen die Notstandsgesetze; in den siebziger und achtziger Jahren dominierten Themen wie Ökologie und Atomkraftwerk und Atomwaffen, aus ausserparlamentarischen Bewegungen wurden teilweise parlamentarische. Die Software wurde hinten an gestellt.
Das Innen kann man nicht sehen und nicht anfassen. Das Unbewusste kann ich nicht sehen und nicht anfassen. Wenn ich geduldig hineinhorche, ist immer etwas zu finden. Das Unbewusste wird Unbewusstes genannt, weil es unbewusst ist. Meine Phantasien kann ich assoziativ leben. Erleben bedarf freischwebender Aufmerksamkeit, statt Verdrängung und Verschiebung und Verleugnung, und die eine oder andere Phantasie gelingt es anzuhalten, zu reflektieren und Ansätze von Sinn zu erreichen. Sehen und Anfassen kann ich die Vergegenständlichungen meiner Phantasien – und derer von anderen -, die als Projektionen auf Menschen und Dinge `greifbar´ werden. Daran kann ich mich festhalten, daran kann ich mich abreagieren, daran kann ich mir niedertriebig freien Lauf lassen, mich an anderen abreagieren. Naheliegend, dass eben menschliche Hardware beliebter ist als Software, – agieren statt reflektieren.
Unbeliebt: „Wage zu wissen!“
Eine grundsätzliche Kardinalerfahrung seit den 60er Jahren in so genannten linken Milieus, welche sich als Avantgarde verstehen, ist die Herrschaft des Unbewussten bei Linken. Ursache ist repressive Erziehung, durch welche Linke geprägt wurden, wie es überhaupt der Mehrheit der Kriegs-, Kriegsende- und Nachkriegskinder erging. Mittels autoritärer postnazistischer Erziehung wurden viele, vielleicht die meisten Jungen und Mädchen aller sozialer Schichten, nach Kriegsende erzieherisch verbal und körperlich gedemütigt statt bestätigt und anerkannt. Nicht wenige Kinder waren ungewollt und wurden erzieherisch verhindert. Diese gewalttätigen Eltern sind während der Nazi- und Kriegszeit der zwanziger, dreissiger und vierziger Jahre aufgewachsen, mussten ihrerseits beschädigte Kindheiten und Jugendzeiten hinnehmen und mit mangelnder und falscher Bildung sowohl des Geistes wie des Herzens aufwachsen, betrogen um ihre Kinder- und Jugendzeit, was zu gesteigerten Ängsten, gehorsamer Selbstverleugnung und Aggressionen führte.
Diese Jahre sind unwiederbringlich verloren. Möglichkeiten von Aufarbeitung der Beschädigungen wurden in den postnazistisch-demokratischen fünfziger und sechziger Jahren vorwiegend in Teilen der Geisteswelt thematisiert, in der Breite und Tiefe der Bevölkerung nicht befördert. im Gegenteil, Gehorsam, Pragmatismus und Kampf ums neue Dasein hiessen die Geister der Zeit. Trauer („Die Unfähigkeit zu trauern“, Alexander und Margarete Mitscherlich) um die Opfer und die Taten und um verlorene falsche Idealismen wichen einer materiellen Gestaltung des Lebens im Glauben an die Einheit von Konsum und demokratisch-bürgerliche Freiheit.
In der Generation der dreissiger und vierziger Jahre verankerte sich Schuld – mehr oder weniger unbewusst -, die sich in der zweiten Hälfte der vierziger und in den fünfziger Jahren durch Aufdeckung völkischer Taten bestätigte. Diese Schulderfahrungen wurden vorzugsweise mittels moralischer Härte und damit einhergehenden Autoritarismus und traditionellen Gehorsam rationalisiert. Die „Bonner Republik“ lebte bis Ende der sechziger Jahre eine Über-Moral des schlechten Gewissens, Kritik wurde häretisch empfunden und mit empörter Aggression aus dem Weg geräumt, natürliche Würde, Ehre und Stolz des Menschen mit wirtschaftlichem Erfolg, Karriere, Fleiss und Sauberkeit und Ordnung in Eins gesetzt, als Hyperidentität und „Tarnumhang“.
„Die Unfähigkeit zu trauern“ um die Opfer und wegen der Taten in den vierziger und dreissiger Jahren setzte Trotz-Destruktionen frei, die sich gegen die eigenen Kinder richtete, insbesondere die Söhne, – Töchter und Ehefrauen kamen auch dran, aber zweiter Klasse. Und aus unbewusster Selbstscham deswegen, wurde „erst Recht“ gegen Kritik der Kinder unterdrückt.
In „Was ist Aufklärung?“ schreibt Kant im Sinne des Anerkennungsbegriffs seines Kategorischen Imperativs: „Dass der bei weitem grösste Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, ausser dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben“.
So die bürgerlichen Milieus, aus dem viele Linke stammen. Die Kritik der Söhne und der Töchter an den Vätern, von Töchtern auch an Mütter, wurde also häretisch empfunden und mit empörter Aggression aus dem Weg geräumt. Weltweite ausserparlamentarische Bewegungen merkten auf. Weltweit reagierten die Staatsmänner mit Gewalt gegen Demonstranten, viele wurden von Staatsbeamten getötet. Es ging nun nicht mehr nur um persönliche Auseinandersetzungen zwischen Söhnen und Vätern, junger Generation und Elterngeneration, und es ging auch politisch nicht mehr ausschliesslich um Nationalsozialismus und um den Holocaust als politische Auseinandersetzung zwischen den Generationen, es ging jetzt bei den weltweiten ausserparlamentarischen Widerständen um gegenwartspolitische Themen, dominant um den Vietnamkrieg, welcher nach den weltweiten ausserparlamentarischen Friedensbewegungen zum Auslöser für internationalen Widerstand wurde. Der Vietnamkrieg wirkte gewissermassen als Wiedergänger mit bekanntem unmenschlichem Antlitz des Nazismus und des Vernichtungskriegs und des Holocaust im Sinne von Menschenvernichtung – es war, als hätten die Widerständler den 2. Weltkrieg vor Augen, als Wiedergeburt der Ahnen, der gefürchteten und verehrten Ahnen: Herrschaft über Menschen und Eroberung von Gebieten, Rassismus, Ideologie, Völkermord, Sadismus, Verachtung … Die damals gegenwärtigen Herren und Entscheidungsträger in Deutschland, die Meinungs-Bildungs-Elite unterstützten die Politik der USA, rationalisierten den Vietnamkrieg, wie sie immer noch Nazismus rationalisierte, verteidigten ihren Krieg und ihre Jugendideale. Verdrängungs- und Verleugnungs-Kultur statt Selbst-Reflexions-Kultur – „Das Zeitalter der Psychopathen“ und der Bürokraten („Verratene Liebe – Falsche Götter“, Arno Gruen) hat damals begonnen.
Und nach dieser ausserparlamentarischen emanzipativen Phase der sechziger Jahre imitierten Söhne in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren die von ihren preussisch-nazistischen Vätern erworbenen tiefenpsychologischen und charakterologischen Muster der Väter und trugen deren Maso-Untertanen-und-Sado-Unterwerfer-Leid nun mit, machten das Verinnerlichte persönlich und gesellschaftlich praktisch, als totalitaristische Therapiepolitgruppen, agierten und rationalisierten zwangsneurotisch, statt bewusst zu reflektieren, Selbstreflexion wurde Konterrevolution. Dieser Prozess zog sich über rund dreissig Jahre hin, bis 1998: Selbstauflösung der RAF, um in eine folgerichtig neurotisch-reaktionäre Qualität nun auf der Ebene der obersten Herrenmacht zu münden: die Rot-Grün-Regierung Schröder-Fischer.
Franz Böhm schreibt 1954 in seinem Geleitwort der Studie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung über die öffentlichen und nichtöffentlichen Meinungen im Nachkriegsdeutschland: „Die Bekenner nicht-öffentlicher Meinungen sind alles andere als schüchtern und verschwiegen. Sie sind durchaus geneigt, einem diese Meinungen sogar höchst herausfordernd oder aber mit sanft bohrender Eindringlichkeit ins Gesicht zu sagen … Ein sehr großer Teil von ihnen hat … eine Denkweise, die ursprünglich keineswegs volkstümliche Lehren und Denkweisen waren, sondern die Denkweise von Renaissance-Höfen, Herren und Überlagerern, die sich den Teufel um individuelles Leid und um das Schicksal von Menschen kümmerten, die sich in den sozialen Sphären unterhalb der Regentenschicht herumtrieben. Hier ist in ganz grossem Umfang Herrendenken, und zwar schikanösestes und herzlosestes Herrendenken im Zuge der Jahrhunderte bei Müller und Schulze angelangt … Kanäle geben, auf denen die Meinungen der nicht-öffentlichen Meinung kursieren. Wahrscheinlich bestehen diese Kanäle in Familien-, Bahn- und Kollegengesprächen … Denn das Denken der Eltern prägt sich den Kindern unauslöschlich ein, und die am Tisch mit Nachdruck geäusserten Vorurteile der Väter haben im Ohr der Kinder den Klang ehrwürdiger Weisheiten …“.
Gerd Koenen datiert und bezeichnet den Zeitraum von 1967 bis 1978, beginnend mit dem 2. Juni 1967, der Erschiesssung von Benno Ohnesorg durch den Polizisten Kurras, bis zu den Selbstmorden der RAF-Führung der ersten Generation, Ulrike Meinhof, Gedrun Enslin, Andreas Baader 1977, als „Das rote Jahrzehnt“.
FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher schreibt am 15.8.2011 unter Stichwort „Bürgerliche Werte“ am Schluss seines eingangs zitierten Artikels: „Der geradezu verantwortungslose Umgang mit dem demographischen Wandel – der endgültige Abschied von Ludwig Erhards aufstiegswilligen Mehrheiten – macht in seiner gespenstischen Abgebrühtheit einfach nur noch sprachlos“.
Die „aufstiegswilligen Mehrheiten“ waren es damals deswegen, weil die Wirtschaft als „Wunder“ boomte, und es der Mehrheit sozial relativ gut ging, besser als vor dem Krieg. Neue Ideologie war nun Konsumgesellschaft, von der Gesellschaft des Geben und Opferbringen im Nationalsozialismus zur Gesellschaft der Belohnung, materielle Belohnungen, keine geistigen. Womöglich begann damals die Plünderung der Zukunft, das Heute, als eine Art Flucht vor der Schuld der Vergangenheit bereits u. a. mit der Erfindung des Kleinkredits, des Konsumkredits in den fünfziger Jahren, mittels dessen staatlicherseits das Wirtschaftswunder zu Lasten des Schulden- und Schuldtums der kleinen Leute, der Konsumenten eingeläutet wurde. Die Staatsschulden stiegen und Bürger wurden zu Schuldnern. Man lebte über seine Verhältnisse, obwohl die bürgerliche Elite predigte: „Man kann nur das ausgeben, was man hat“. Alex Möller, Finanzminister der Regierung Helmut Schmidt, nannte am 5.11.1975 in einer Rede vor dem Bundestag Adenauer, Erhard und Kiesinger die CDU-Schuldenmacher der Nation, von 1948 an, als Deutschland aufgrund der Währungsreform praktisch schuldenfrei war, bis 1969. Das war das Jahr, als dem Wirtschaftswunder die Luft ausging und nach offiziellen Angaben weit über eine halbe Million Menschen arbeitslos waren. Die Verschuldung betrug damals rund 50 Mrd. DM. Jedoch 1975 betrugen die Schulden rund 100 Mrd. DM und die Nettokreditaufnahme bereits 64 Mrd. DM, und sie sollte von nun ab ständig weiter steigen. Wegen der ausufernden Schuldenpolitik Helmut Schmidts, rund 350 Mrd. DM bis 1982, kündigte die FDP die Regierungsbeteiligung auf.
„Das rote Jahrzehnt“ ist ursprünglich ein autobiographischer Text von Arthur Koestler über den auf zehn Jahre angelegten „Nichtangriffspackt“ zwischen Stalin und Hitler. Schon aus diesem Grund ist die Deutung Koenens unglücklich gewählt. Und „rot“ waren die Ideologiesysteme der K-Gruppen: UdSSR, China, Kuba, DDR, der Ostblock überhaupt, aber nicht die APO, und die K-Gruppen hatten sich nur plump eingekleckert und verfärbt.
Die so genannte „68er“-APO entwickelte sich infolge der APOs der Friedensbewegung und der Frauenbewegung kurz nach Gründung der Bundesrepublik 1949 gegen die – terroristische – Drohung seitens des Adenauerstaates mit Wiederbewaffnung und Atombewaffnung, – weswegen Gustav Heinemann aus Protest von seinem Amt als Innenmenister zurücktrat. Des weiteren entwickelte sich die 68er-APO über zahlreiche andere soziale, sexuelle, rassische, religiöse, pädagogische, kulturelle ausserparlamentarische bürgerliche Protestgruppen der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Diese Gruppen waren bereits APOs. Hinzu kam der Ausschluss des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ 1961 aus der SPD. Das war der direkten Beginn der autonomen und ausserparlamentarischen Studentenbewegung der sechziger Jahre, und der Empörisierung derselben wegen der postnazistisch-terroristischen Gewaltekstasen der Polizei gegen gewaltfreie Demonstranten und wegen der postnazistischen Hetze der Bildzeitung und anderer Medien sowie derer von öffentlichen Persönlichkeiten gegen die APO und gegen einzelne Personen. Und dann das Trauma: der terroristische Mordanschlag des Berliner Polizisten Kurras gegen den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967.
Mit rücksichtsloser Ausnutzung seiner kleinstmöglichen Mehrheit schürte der Dogmatiker Adenauer seit 1949 Angst und Schrecken, unterdrückte und zwang Kritiker gegen seine Politik in die Ohnmacht, Gesinnungsrecht statt Dialog. Und tausende Gewerkschaftler, Kriegsdienstverweigerer, Mitglieder der KPD, Sozialdemokraten wurden mit legalen und erpresserischen Mitteln bekämpft und bürgerliche Existenzen zerstört.
Terror bedeutet durchaus nicht nur tötende Gewalt, wie das Wort heute verwendet wird. Terror bedeutet etymologisch und lateinisch an sich „Schrecken“, „Unterdrückung“, „rücksichtsloses Vorgehen“, „Einschüchterung“, „geistige Vergewaltigung“. Einer der Philosophen des Liberalismus und Bürgertums, Thomas Hobbes, sprach vom „Schrecken der Macht“ als legitime Funktion des Staates. Das beginnt Schirrmacher anzuzweifeln, das Herrendenken und -handeln, und damit die Bildungs-, bzw. Meinungs-Bildungs-Elite.
Der Terror denunziatorischer Gewalt und dann Körperlicher Gewalt wandte der Staat Adenauers und Erhardts gegen Kritiker und Demonstranten an, und dann Kiesinger/Brand 1966 bis 69, gipfelnd im terroristischen Mordanschlag gegen Benno Ohnesorg.
Wie auch immer die Art Herrschaftsmassnahmen denunziatorischer, körperlicher Gewalt und bürgerliche Existenzerstörung durch Adenauer bewertet werden mag, spätestens mit dem staatsterroristischen Mordanschlag auf Ohnesorg begann das Jahrdreissigt des Terrors der deutschen Nachkriegsgeschichte, vom 2. Juni 1967 bis 20. April 1998, als die RAF ihre Selbstauflösung bekannt gibt; wenn nicht bereits das „Petersburger Abkommen“ am 22. November 1949 als Akt des „Schreckens“, der „Unterdrückung“, des „rücksichtslosen Vorgehens“, der „Einschüchterung“ gewertet werden könnte: Ausgrenzung Ostdeutschlands und Osteuropas, Wiederbewaffnung, Plan einer europäischen Armee mit Beteiligung Deutschlands, Stilisierung und Projektion Ostdeutschlands und Osteuropas zum Feindbild, statt Aufarbeitung des eigenen Nazibewusstseins und -unbewusstseins im eigenen Land, welches sich bis heute über Väter und Söhne fortsetzt, – in bürgerlichen wie in linken Milieus.
Beide leiden an „Denkweise von Renaissance-Höfen“ und „Herrendenken“. Herrenpolitik von Meinungs-Bildungs-Eliten ist hier Thema, bzw. es ist Psyche und Geist, welche diese Herrenpolitik hervorbringen: das Herrenfantasieren des Herrendenkens. Und in der Beschäftigung mit Herrendenken zeigt sich, dass weder bürgerliche Politik noch linke Politik `recht haben´. Es geht nicht darum, dass „gespenstige Abgebrühtheit“ eine von „gierigen Wenigen“ ist und das „Bürgertum“ „missbraucht“ wird. Vielmehr ist es das Bürgertum selber, welches die Welt unzumutbar macht. Nicht viel anders das Linkstum: unbewusste, bei so manchen auch durchaus bewusste Selbstbestrafung und deswegen Racheprojektion gegen die anderen´.
„Wurde denn überhaupt Theorie gemacht?“
Die bürgerliche Bildungs-Elite und die ausserparlamentarische und parlamentarische Linke, – die Konsequenz: „§ 1968 BGB: Beerdigungskosten: Der Erbe trägt die Kosten der Beerdigung des Erblassers“.
Bereits seit 1970/71 stellte der Sozialpsychologe Peter Brückner unermüdlich jedem Linken, der es hören wollte und jenen Linken, die es nicht hören wollten, die meisten Linken wollten es nicht hören, seine Frage:
„Wurde denn überhaupt Theorie gemacht?“
Im Oktober 1967 wurde ein in „Kursbuch“ aus dem Vorjahr von Hans-Magnuns Enzensberger geführtes „Gespräch über die Zukunft“ mit führenden Theoretikern des SDS abgedruckt, Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Christian Semler, Thema und Ziel: eine freiere Zukunft mit freieren Menschen. Voraussetzung dafür sollen Aufhebung von Privateigentum und von Arbeitsteilung sein, `gerechte´ Produktionsverhältnisse. Die Veränderung der Hardware soll dann den Neuen Menschen schaffen, „Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften“ würden dann einkehren, schrieb Marx in „Philosophisch-Ökonomische-Manuskripte“.
Hatte Hegel die Begrifflichkeit als Entwicklung des philosophischen Denkens, also die Entwicklung des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins und des Geistes und des Lebens überhaupt bis an die Grenze verdichtet, und über die Verhältnisse des allgemeinen Denkens und des gesunden Menschenverstandes gewarnt, so wendete der junge Marx die idealistische Ausgangslage und breitete Mythos und Ekstase auf dem Boden der Tatsachen des Seins aus, welches das Bewusstsein bestimmt: „Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden“ (Aus dem. lit. Nachl. 11/“Die Heilige Familie“). Da der Mensch es ist, der die Verhältnisse bildet, setzt das voraus, das sich der Mensch selbst erkennt, ändert und menschlich bildet und dann auch die Verhältnisse. Und hinsichtlich Bewusstsein und Geist, der sich seit den Sieben Weisen entwickelte, um den sich-selbst-bewussten Neuen Menschen zu befördern: „Unser Wahlspruch muss also lauten: Reform des Bewusstseins, nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst noch unklaren Bewusstseins“, der junge Marx an Ruge.
Software wird gemieden, obgleich die Software es war, welche in dieser emanzipativen Phase seit 1966 lebte, las und Phantasie machte. Diese Zeit der Ausserparlamentarischen Opposition, die Phase der Emanzipation, ging bereits 1969 zuende, und im März 1970 wurde der Dachverband des SDS aufgelöst sowie in der Folge die regionalen Verbände, und man begann „Praxis zu machen“, Organisation statt Emanzipation, Posten statt Opposition, Geschlossenheit statt Offenheit, Zwang, Gehorsam und Dogmatismus statt Selbstreflexion und Freiheit.
Die einen wollten Brückners Frage nicht hören, weil sie bestens Bescheid zu wissen gewiss waren. Denn unter Theorie verstanden sie ihr Verständnis von Marx oder Bakunin oder Lenin oder Stalin oder Mao etc etc., und sie agierten als K-Gruppen etc. Andere wollten es nicht hören, weil sie mit Theorie „nichts am Hut“ hatten. Praxis „aus dem Bauch“ heraus war ihr „Ding“, Theorien „Kopfwichserei“. Oder unter Theorie wurde verstanden lebensanleitende Schriften zu psychologischen, sexuellen, pädagogischen, esoterischen, naturverbundenen Lebensweisen etc. etc.
Brückner verwies mit seiner Frage, „Wurde denn überhaupt Theorie gemacht?“, an Selbstreflexion der Linken, nach und wegen des Zusammenbruchs der Gegenöffentlichkeit, der emanzipativen anti-autoritären Bewegung.
Also erschien entsprechend 1973 eine Broschüre von Brückner: „Kritik an der Linken“. Brückner schreibt darin: „… die Linke kann daher, als ein Produkt dieser Gesellschaft, einen Teil ihres Selbstverständnisses aus den Händen ihrer Feinde entgegennehmen, solange sie sich nicht selbstkritisch als ihr Produkt begreift. Sie agiert dann, was sie zu reflektieren hätte.“
Fußnote: „Mit dem Erlöschen der (Selbst-)Reflexion ist bürgerliche Herkunft dann bei Genossen nur noch in der Aktionsform, als seiner Quellen nicht bewusstes Handeln, nicht mehr als Wissen nachweisbar“.
Brückners Verständnis von Theorie war eines, das sich aus der Dialektik von Innen und Aussen, von psycho-intellektueller Selbst-Reflexion und Welt-Reflexion bildete, – Selbst-Welt-Reflexion, eben: „Wage zu wissen!“ (Und 1975 folge sein Buch: „Bewahre uns Gott vor irgendeiner Revolution – Die Ermordung des Staatsrats von Kotzebue durch den Studenten Sand“.)
Brückner wurde von weiten Teilen der damaligen Linken von gemieden und ignoriert bis aggressiv angegriffen und auch verleumdet oder ausgenutzt. Und er wurde von der Staatsgewalt und unlinken Medien gejagt und existenziell zermürbt, weil er öffentlich laut dachte, – „Es ist an der Zeit innere Monologe zu veröffentlichen“ -, was ist.
Hans Mayer schreibt im November 1984 in „Die Zeit“: „Peter Brückner: Leben und Denken – Selbstbefreiung in der normalisierten Welt“, beginnend Brückner zitierend: „`In Deutschland gibt es keine Umwälzung aller beklagenswerten Verhältnisse ohne tiefgreifende Veränderung von Innerlichkeit, Bedürfnis, zwischenmenschlichem Verkehr. Ohne Umwälzung also der Mentalität sehr großer Teile der Bevölkerung, die gewiß ihre historischen und materiellen Ursachen hat, die aber nun den Wechsel politischer Systeme mühelos übersteht´. Dies ist einmal als scharfe Absage zu verstehen an alles Gefuchtel mit der Vokabel „Revolution“. Es ist die Gegenthese zu allem Terrorismus. Außerdem spricht hier die Lebenserfahrung eines Deutschen in Deutschland und mit den Deutschen. Auch Peter Brückners Denken und Handeln gehört zur Geschichte des „Leidens an Deutschland“, um eine Formel des von Brückner verehrten Thomas Mann anklingen zu lassen. Erfahrenes Leiden an Deutschland: die Lebensgeschichte Brückners ist dafür exemplarisch“.
Peter Brückner ist Kriegsgeneration, 1922 geboren, war 1967 mit 45 Jahren deutlich älter als die Mehrheit der Ausserparlamentarischen-Bildungselite; und er war Professor und damit gleichsam bürgerliche Bildungselite – „trau keinem über dreissig“ -, als solcher eigentlich Aggressionsobjekt vieler Ausserparlamentarisch-Oppositioneller; und er schrieb und lebte Ungehorsam und persönliche Über-Ich-losigkeit, weil sich-selbst-erkennen erarbeitend; und seine gelebte und seine geschriebene psycho-intellektuelle Selbstreflexions-Kultur wurde wenig verstanden, weil sie darauf hinaus lief, sich zu erkennen und sich zu ändern.
Das machte ihn zum Übertragungs-Projektions-Subjekt, Verehrungs-Aggressions-Objekt ersten Ranges (Brückner war nicht „Freund und Unterstützer“ von Ulrike Meinhof, wie Gerd Koenen schreibt, er hat nur die auf der Flucht befindliche Gejagte nicht vor der Tür stehen lassen). „Wir können die Machtfrage nicht stellen“, war eine andere Botschaft die Peter Brückner jedem vorhielt, der es hören wollte und jenen, die es nicht hören wollten. Dazu gehörte auch Ulrike Meinhof. Da sie nicht hören wollte, geriet sie an Hitlers Wehrmachtsoffiziere Schmidt, Wischnewski, Maihofer, Herold, Strauss und den fanatischen Kettenhund Bölling.
Bereits 1972 sprach Brückner über Aufklärung, Moral, humane Umgangsweisen und Manieren! hinsichtlich zwischenmenschlicher Verkehrsformen der Linken, worüber er dann 1980 einen Artikel im Wagenbach-Verlag veröffentlichte. Es geht um Aufmerksamkeit, Rücksichtnahme, Mitgefühl im Umgang mit anderen und auf deren Gefühle, – die gescheiterte linke Bildungselite als Gegenöffentlichkeit gegen die bürgerliche Bildungselite, gleichviel die „transzendentale Obdachlosigkeit der bürgerlichen Welt“ (Georg Lukács, „Theorie des Romans“) (die Schirrmacher nun mulmig fühlt), wird von der `Avantgarde´ innerlich und im zwischenmenschlichen Umgang nachgeäfft, äusserlich rationalisiert, – „aussen hui, innen pfui“.
Pierre Bourdieu veröffentlichte kurz vor seinem Tod seine Abschlussvorlesung am Collége de France 2001: „Ein soziologischer Selbstversuch„,
„Es gibt viele Intellektuelle, die die Welt in Frage stellen, es gibt wenige, die die intellektuelle Welt in Frage stellen“.
„Urphantasien“
– Bildungsbürgerelitler und Bewusstseinsbürger Peter Sloterdijk
1983, ein Jahr nach Brückners Tod, der Schock: einer aus den eigenen Reihen, Nachkriegsgeneration, 1947 geboren, 1983 also 36 Jahre alt, verblüfft linke und bürgerliche Öffentlichkeit mit der „Kritik der zynischen Vernunft“, Aufklärung im Kantischen Sinne hätte es nie gegeben!. Man schweigt betreten oder brüllt um sich, Neid und Konkurrenz statt Erkenntnisschmerzfreude, sinnt auf Rache, lauert auf eine Gelegenheit. 1998 endlich, der Knüller: Peter Sloterdijks Elmauer-Rede. Es geht hoch her …. ein Opernszenario ersten Ranges wird inszeniert, das ganz grosse Spektakel … Ausbruch der
„Uhrphantasien“
Das Eis war gebrochen, von nun an wurde Sloterdijk verfolgt, bis zur „Revolution der gebenden Hand“ und „Warum ich doch recht habe“, wenngleich er `sich nicht kriegen und festnageln liess´, nicht von Habermass, Asseuer and Friends, nicht von Mohr und Broder etc., nicht von Honneth, nicht von Feuilletonjournalisten und nicht von „Argument“-Autoren und Linksnet-Muff … unter den Haaren, bei denen es „um die Verlängerung und Perpetuierung der ursprünglichen mythischen Illusion“ (Girard) zu gehen scheint. Und um ein Urphantasien-Über-Ich zu zitieren: „… die Ekstase ist der Geist jedes Tages …“ („Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“); der junge Marx und die `Revolutionäre´.
Innere Monologe machte Sloterdijk in einem Gespräch mit Carlos Olivieira als „Selbstversuch“ öffentlich, und später als „Dialogische Untersuchungen – Die Sonne und der Tod“, mit Hans-Jürgen Heinrichs.
„Wenn Freud sich die Frage stellt, ob es beim Menschen etwas dem `Instinkt der Tiere´ Vergleichbares gebe, so findet er dieses Äquivalent nicht in den Trieben, sondern eben in den Urphantasien“, schreiben Jean Laplanche und J.-B. Pontalis in „Urphantasie, Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie“. Dieses „ursprüngliche Supplement“ (Jacques Derrida) „urspringt“ … „mittels des Szenariums eines Imaginären“ (Laplanche, Pontalis) über den Umweg nachträglicher „Repräsentanzen“ (Freud) als sprechender Mensch und erzählt den `Urbruch´ seiner Geschichte, die seine Gründung ausmacht.
„Regel:
1. Leiste dem Alarm sofort Folge.
2. Lege rasch Feuer.
3. Verbrenne alles.
4. Melde dich sofort zurück.
5. Stehe für den nächsten Alarm bereit.
Der Alarm ertönte.“
Ray Bradbury, „Fahrenheit 451“
Zum Jahreswechsel präsentierte Der Spiegel am 21.12.2002 einen Artikel von Reinhard Mohr und Hendryk M. Broder in der Abteilung „Kultur“, unter der Rubrik „Zeitgeist“, über Peter Sloterdijk mit dem Titel: „Herr der Blasen“.
Mohr/Broder spielen damit sowohl auf das aus drei Bände bestehende, mit ca. 2.500 Seiten umfängliche Werk „Sphären“ von Sloterdijk an, dessen erster Band den Titel „Blasen“ trägt, als auch auf jahrelange Vorwürfe gegen Sloterdijk, seine Philosophie, seine Sprache seien „Sprechblasen“, nämlich unverständlich.
In „Der Spiegel“ 2/2003 schreibt Harald Fauska als Leserbrief: „Ihre Redakteure spitzen ihren Bleistift nicht gegen die Mächtigen, sondern kritisieren den Kritiker. Ob man Sloterdijk mit Verleumdung, Schmähung und bewusstem Falschlesen gerecht wird, ist fraglich.“
Robin Kenius schreibt als Leserbrief über Sloterdijk: „… Seine Rede ist dunkel, die Sprache unverständlich“.
Anläßlich des „Alarmismus“ wegen der Elmauer-Rede von Sloterdijk 1999 zur Gentechnik, gesteht der Philosoph Ernst Tugendhat in der berühmten Ausgabe von „Die Zeit“ Nr. 39, vom 23.9.1999, „dass ich nicht verstanden habe, worum es dem Autor überhaupt geht. Was will er eigentlich? Und gibt es irgendetwas an diesem Aufsatz, was wir jetzt besser verstehen würden? Irgendetwas, das er geklärt hätte? Ich habe nichts gefunden“.
Und in der gleichen Ausgabe mahnt der Philosoph Manfred Frank: „Ist nicht gerade der Philosoph eine Antwort auf diese Herausforderung“ (gentechnisches Know-how) „schuldig?“
– Diese Frage würde Sokrates wohl wundern.
In der besagten Ausgabe Der Spiegel vom 21.12.2002 schreiben Reinhard Mohr und Hendryk M. Broder:
„… Denker spricht und schreibt: prätentiös, umständlich, verquast … megalomanem Wortausstoss …“
Nachdem Hegel seine Vorlesungen in Berlin angetreten hatte, schrieb der Philosoph und Rektor Schleiermacher schon nach ein paar Wochen: „… man muss sehen, wie er sich auf die Länge hält; Klagen über seine Unverständlichkeit werden freilich schon gehört …“ (auch Schiller wurde Unverständlichkeit wegen seiner „Ästhetische Briefe“ vorgeworfen).
Und Goethe schrieb in einem Brief an Graf von Reinhard: „… dieser wundersam scharf und fein denkende Mann ist seit geraumer Zeit Freund meiner physischen Ansichten … hat er sich so durchdringend geäussert, dass mir meine Arbeit wirklich durchsichtiger als vorher vorkommt …“.
Und in einem Brief an Staatsrat Christoph L. F. Schultz schreibt Goethe: „Eine besondere Freude jedoch, die mir in diesen Tagen geworden, darf ich nicht verschweigen. Ich erhielt einen Brief von Professor Hegel, der mir höchst wohltätig zustatten kam. Er bezog sich auf mein letztes naturwissenschaftliches Heft, besonders auf die entopischen Farben. Dieser merkwürdige geistreiche Mann hat, wie meine Chroagenesie überhaupt, so auch dieses Kapitel dergestalt penetriert, dass meine Arbeit mir nun selbst erst recht durchsichtig geworden.“
Und in einem Brief an Hofmeister von Knebel berichtet Goethe über ein Gespräch mit Hegel: „… denn was bei gedruckten Mitteilungen eines solchen Mannes uns unklar und abstrus erscheint, weil wir solches nicht unmittelbar unserem Bedürfnis aneignen können, das wird im lebendigen Gespräch alsobald unser Eigentum, weil wir gewahr werden, dass wir in den Grundgedanken und Gesinnungen mit ihm übereinstimmen und man also in beiderseitigem Entwickeln und Aufschliessen sich gar wohl annähern und vereinigen könne“.