„Der gute Hirte“

„Der gute Hirte“

In der Geschichte der Mythen, Religionen, Philosophie und Psychologie und Literatur wurde die Metapher „Hirte“ zu einem Topos. Bis hinein in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg durch den Philosophen Martin Heidegger und seinem Wort: „Der Mensch ist der Hirte des Seins“, im Brief „Über den Humanismus“ an J. Beaufret, 1954. Und unlängst in der anhaltenden Debatte über die Rede des Philosophen Peter Sloterdijk, „Regeln für den Menschenpark“ 1997/ 1999, über Biotechnologie als „Anthropotechnik“ (Sloterdijk), Menschenzüchtung, Menschenerziehung.

Bereits der antike Philosoph Plato nennt Regeln für den Betrieb eines Menschenparks, der Gesellschaft, woher Heidegger seinen Hirtenbegriff bezieht. Die damaligen Menschen sind nach der mythologischen Zeit und ihrer Abkehr von den Olympischen Göttern sich selbst überlassen, ihre eigenen Hirten und Hüter, Selbsterzieher. Wer soll nun der Hirte werden, und wie soll er sein?

Die antike Bürgerherde ist nicht mehr mit mythologischen Flügeln und Hörnern ausgestattet, keine Mensch-Tier-vermischten Kreaturen. Der Hirte soll nicht wie ein Tyrann dunkler Zeiten sein. Freiwillige Hirten über freiwillige Herden sind gefordert. Der neue Königstypus soll Hirte sein, nicht mehr archaisch gottgleich, sondern besonnen und ideal, ein Humanist in einer humanistischen Herdengesellschaft mit idealen Hirten.

Rund zwei Jahrtausende später, nach dem Scheitern der humanistischen Ideale des 18. Jahrhunderts, trotz Immanuel Kant und Schillers „Erziehung des Menschengeschlechts“, und dann im 20. Vernichtungskrieg-Holocaust-Jahrhundert, lernen die Menschen gegenwärtig sich selbst zu hüten, da Politik, Finanzkapital, teilweise Medien ihrem Hirtenauftrag nicht gerecht werden. Gibt es Aussicht auf Gute-Hirten?

Der Hirte des Seins ist Hüter der Existenz

Der Hirte hütet nicht nur die Herde, er ist auch Züchter und Erzieher der Herde.
Und mehr noch: Der Hirtenberuf ist zu einem die Jahrhunderte überdauernden Topos geworden, im Sinne eines Wahrens und Bewahrens des Lebens. Jäger erlegen Tiere. Sammler ernten in der Flora. Bauern säen und ernten.
Der Hirte (Cowboy, Charro, Gaucho, Buttero, Csikós, Gardian, Vaquero, Almhirte, Senner etc.) hütet, leitet, züchtet Schafe, Ziegen, Lämmer, Kühe und Rinder, Schwein, Esel, Maultier und Pferd, Zebras, Gnus, Kamel und Dromedar, Lama, Gänse, Strauss etc.
Und der Hirte ist Erzieher der Tiere, dahingehend, dass sie selber Futterplätze und Wasserstellen finden, dass sie eine geschlossene Gemeinschaft bleiben, dass sie friedlich miteinander leben. Und wenn sie aufgrund von Gefahren in Panik geraten, treibt der Hirte und seine Hunde die Herde zusammen und beruhigt sie.
Der Hirte sorgt für die substantielle, materielle und essentielle, wesenhafte  Existenz der Tiere.
Sokrates sagte, dass der Hirte nicht durch den Vollzug des Metzgers definiert ist, sondern dadurch, dass er das Wohl der Schafe besorgt.
Über zweitausend Jahre später schreibt der Philosoph Hegel: „… die Sittlichkeit … des Hirten … hat unendlichen Wert … unangetastet vom lauten Lärm der Weltgeschichte“, („Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“).
Die Freiheit des Hirten und seiner Gemeinschaft ist Wesen an sich.

Wie es mit dem Guten-Hirten begann

Der Hirte ist seit antiken Zeiten der Gute-Hirte, der auf die Wiederkunft des vergangenen „Goldenen-Zeitalters“ verweist, dem ursprünglichen Idealzustand der Menschheit, Allegorie des Glücks und des Friedens. Der Gute-Hirte steht als Wächter für Humanität, gesellschaftliche Anteilnahme, Philanthropie, Symbol für Schutz und  Ordnung. So ist der Hirte Hüter, Züchter und Erzieher der Einzelnen und  der Vielen.
Gilgamesch wurde vom `Unmensch´ zum „Guten Hirten“.
In der griechischen Antike galt der Landstrich Arkadien als der Ort des verlorenen Goldenen-Zeitalters, und das Hirtenvolk der Arkadier als Idealvolk, welches unbelastet von mühsamer Arbeit und gesellschaftlicher Anpassung in der Idylle der Natur friedlich und glücklich im Einklang mit der Natur  Muße, Liebe, Dichtung und Musik pflegte. Derart wurde in der Bukolischen-Dichtung, der „Hirtendichtung“ und den „Schäferliedern“ das Leben der Hirten besungen, u.a. von Vergil, Theokritos, Moschos, Bion von Smyrna, und in der lateinischen Bukolik von Calpurnius Siculus und Nemesian, welche, wie auch Vergil, Hymnus über den verstorbenen berühmten Hirten Meliboeus geschrieben haben, der den als Kind ausgesetzten Oedipus aufgezogen hatte. Oder z. B. Hymnen auf den griechischen Hirtengott Pan, oder Bacchus, bzw. Dionysos, oder über die Hirten Lycidas und Mopsus.
Die Sehnsucht nach Arkadien veranlasste die lateinische Literatur dazu, den griechischen Ort nach Sizilien zu verlegen. Und Vergil lobt sogar leidenschaftlich die Grossstadt Rom als Ort des Glücks und des Friedens.
Das Ideal des nomadischen Hirtenlebens wird gut eintausendfünfhundert Jahre später in der humanistischen Renaissance und im Barock aufgegriffen und in unzähligen Gedichten, Liedern und Gemälden bis ins 18. Jahrhundert hinein zelebriert. Und in der Epoche der Aufklärung priesen Goethe, Schiller u.a. Arkadien als Symbol für das Goldenen-Zeitalter.

Die jüdische Tradition des Hirten in das Alte Testament

Abel war Hirte, ein von Gott geliebter Guter-Hirte. Auch die Gründerväter Abraham, Isaak und Jakob waren Hirten. Und bereits Moses erfüllte die Funktion des Hirten seines Volkes. Der grosse König David übte den Beruf des Hirten aus und wurde dann Hirte des Volkes Israel. Und auch Propheten, Priester, Richter, Staatsleute sollten Hirten der Völker sein.
Da nach David und Salomon Jahrhunderte lang egoistische Könige herrschten, liess Gott den Propheten Hesekiel sagen: „Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! … Das Schwache stärkt ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben“ (Hesekil 34)
Da sich grundsätzlich der Mythos vom menschlichen Guten-Hirten von Gott selber als Hirte der Menschen ableitet, sprach Gott: „So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen“.
So der berühmte 23. Psalm Davids:
„Der HERR ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Strasse um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar“.

Hier erweitert sich die Metapher vom Hirten auf Hüter, Gott als Hirte und Hüter der Menschen: die Menschen sind Gottes Gäste bei Tisch und wohnen im Hause des Herrn. Gott, und daraus folgernd der Mensch, soll Hirte und Hüter des Mitmenschen und ihr Gastgeber sein, und Hüter des Hauses und der Familie und der Existenzen überhaupt.

 Die Jüdisch-christliche Tradition in das Neue Testament

Die nomadischen Hirten sind diejenigen, denen der Engel des Herrn als erste die Geburt Jesu Christi verkündeten, lange bevor die mächtigen drei Könige dem Stern folgten, die `Bildungsbürger´, Vertreter herrschender Kultur, Aufklärer, Magier, die Behausten, die aus ihren Palästen kommend den Erlöser suchen.
Und später im Johannes Evangelium 10,11-18, der erwachsene Jesus: „In jener Zeit sprach Jesus: Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reisst sie und jagt sie auseinander. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt. Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten. Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand entreisst es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen“.
Jesus tritt hier als der Gute-Hirte auf, der seine Menschenherde und die „anderen Schafe, die nicht aus diesem Stall sind“, führen und erziehen, „und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten“.
Auch Oberhirte Jesus lebte, wie die anderen Hirten, nomadisch.
Das Hirtengleichnis steht als Beziehungsbild für die Sorge und Fürsorge des Hirten bis zu seiner Entbehrlichkeit, und damit der Mündigkeit der Gemeinde.
Das Hirtenbild ist später im christlichen Kulturkreis fast ganz auf die „Hirten der Kirche“ eingeschränkt worden, Hirte = lateinisch Pastor, Pastor bonus = Guter-Hirte, seit dem 14. Jahrhundert.

Das Hirtenbild bei Griechen und Römern in Mythen und Literatur

In der griechischen Mythologie war Pan der Gott der Hirten, Narziss war ein Hirte, auch Paris, der, wie Ödipus, von den Eltern ausgesetzt und von Hirten erzogen wurde. Im berühmten und in Literatur, Philosophie und Psychologie bedeutenden Ödipus-Mythos zwingt der erwachsene Oidipus, mittlerweile König geworden, den alten Hirten Meliboeus ihm die Geschichte seiner Herkunft zu erzählen. Zwar ist er Sohn des Königs Laios von Theben, aber da er als Kleinkind ausgesetzt wurde, ist er von Hirten erzogen worden.
Der Gott Hermes, Sohn des obersten Gott Zeus, wird als Urbild des Guten-Hirten verehrt. Hermes ist der Bote der den Menschen die Botschaften der Götter überbringt und diese ihnen interpretiert. Er ist nicht Kurier, sondern fordert und fördert Verständnis und Einsicht von den Menschen in die göttlichen Botschaften. Nach ihm wurde die Wissenschaft vom Erklären und Verstehen „Hermeneutik“ benannt. Die antike Philosophie identifizierte ihn mit einer der philosophischen Hauptkategorien,  dem „Logos“, göttlich-menschliche Vernunft.

„Kehre“ (Heidegger), in der sie sich vom „Platzhalter des Nichts“, wie Heidegger noch 1927 in „Sein und Zeit“ schrieb, selber zu ihren eigenen Hirten des Seins und ihrer Zukunft verwandeln. Denn „Hirte des Seins“, wie Heidegger nach seiner „Kehre“ im Brief „Über den Humanismus“, nach dem Vernichtungsnichts des 2. Weltkriegs schrieb, ereignet sich in der „Lichtung“, als dem Ort, an dem das Sein der Existenz aufgeht: „Lichtung des Seins“ (Heidegger).

Für den anderen Philosophen der Existenz, Jean-Paul Sartre, ist der Mensch das Wesen des Möglichen, er erschafft sein Wesen. Dabei geht die „Existenz dem Wesen voraus“ („Das Sein und das Nichts“). Es ist ein Prozess des „sich in die Zukunft Entwerfens“, „des Planens für die Zukunft“. In diesem Sinn ist „der Mensch zur Freiheit verurteilt“, und in diesem Sinn ist der Mensch Ursprung des Nichts – bei Heidegger ist umgekehrt die menschliche Existenz das „Hineingehaltensein in das Nichts“. Die Begegnung mit dem Nichts in der Angst ist „ein Ruf nach Sein“ (Sartre).

Wie sich die Schrift als Kettenbrief und Flaschenpost über Jahrhunderte durch die Geschichte der Menschheit zieht, hallt der Ruf der Hirten in den Lichtungen des Seins moderner Unternehmer als Echo im Ohr, wegen unsicherer, arbeitsloser, geringverdienender, armer, sterbender Existenzen weltweit. Seit geraumer Zeit melden sich Unternehmer, die in verschiedener Weise in ihren Unternehmungen und mit ihren Vermögen die überkommene Variation des Profits um jeden Preis unterwandern, mittels der Variation: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“, um menschlichen Wesen gegen die Angst des Nichts mit Arbeit zur Selbsthilfe Existenzen zu ermöglichen, als vorübergehende Hirten.
Und hierher gehört die von Peter Sloterdijk begonnene Debatte um die „Revolution der gebenden Hand“.